Im zehnten Jahrhundert waren grosse Teile der heutigen Schweiz von barbarischen Überfällen betroffen. Die Sarazenen des Emirats Fraxinetum hatten die Kontrolle der westlichen Alpenpässe an sich gerissen und beherrschten während fast eines Jahrhunderts die wichtigen Handels- und Pilgerwege zwischen Frankreich, Italien und der Schweiz. Ein grosser Teil der Schweiz geriet unter ihre Herrschaft.
Die Errichtung und der Aufstieg von Fraxinetum
Historikerinnen und Historiker tendieren dazu, die Schlacht von Tours und Poitiers im Jahr 732 als Höhepunkt der frühmittelalterlichen Expansion des Islams nach Westeuropa zu betrachten. Es darf aber nicht vergessen werden, dass die islamische Invasion Europas weit über das achte Jahrhundert hinaus reichte.
Araber und Berber – die in mittelalterlichen Texten als «Sarazenen» bezeichnet wurden – nutzten das politische Chaos rund ums Mittelmeer und eroberten Kreta (ca. 824), Sizilien (831) und Malta (870). 846 plünderten sie die Vororte Roms und zwischen 847 und 871 besetzten sie Teile von Apulien und zwischen 885 und 915 Kampanien.
Der Begriff «Sarazenen»
Dieser weite Begriff wurde in mittelalterlichen Texten Europas häufig verwendet, um zunächst die Menschen aus Arabien und später jene zu bezeichnen, die sich zum Islam bekannten und in islamischen Ländern lebten. Während der Renaissance und dem Zeitalter der Entdeckungen wurde anstelle von «Sarazene» immer häufiger «Mohammedaner» und später «Moslem» und «Muslim» verwendet.
Die Sarazenen führten grosse Militäraktionen gegen die Karolingischen Nachfolgestaaten und griffen 831 vom Mittelmeer her kommend Marseille und die Städte entlang der Rhonemündung an. 848 eroberten die Sarazenen sogar Arles. Der Tod des niederburgundischen Königs Boso von Vienne (reg. 879–887) und das auf seinen Tod folgende politische Vakuum bot den Sarazenen die perfekte Gelegenheit, in Westeuropa Fuss zu fassen.
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Um 889 belagerte eine kleine Truppe von vielleicht 20 Männern La Garde-Freinet in der Provence und eroberte das nahe beim heutigen St. Tropez liegende Dorf. Dank ihrer strategischen Lage zwischen dem Golf von St. Tropez und dem Gebirge mit dem treffenden Namen «Massif des Maures» wuchs die in der frühmittelalterlichen europäischen Geschichtsschreibung «Fraxinetum» genannte islamische Siedlung rasch.
Die Herkunft und Beweggründe jener, die Fraxinetum bevölkerten und erbauten, sind auch heute wissenschaftlich nicht gesichert. Die Eroberung von La Garde-Freinet war möglicherweise ganz einfach das Werk von durchtriebenen Piraten, die sich mit den Befestigungen an der Küste und in den Bergen auskannten. Viele davon waren möglicherweise berberischen Ursprungs und einige stammten von den Balearischen Inseln Spaniens. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass sich ihnen auch christliche Überläufer und Opportunisten angeschlossen haben. Neben den einfachen Plünderungen lockten andere möglicherweise die religiösen Verdienste und die weitere Ausdehnung des Dar al-Islam durch den Djihad.
Nur wenige islamische Quellen erwähnen Fraxinetum. Der arabische Geograf Ibn Hauqal († 978) bezog sich in seinem Surat Al-Ard direkt auf Fraxinetum, während Ibn Hayyan al-Qurtubi († 1076) es in seiner Chronik Muqtabis nur am Rande erwähnte. Viel mehr Hinweise auf Fraxinetum finden sich in zeitgenössischen christlichen Chroniken und Aufzeichnungen. Der bekannte Geschichtsschreiber und Bischof Liutprand von Cremona (920–972) erwähnte Fraxinetum in seiner Antapodosis und in seiner Historia Ottonis. Er vertrat die Auffassung, dass die Sarazenen von Fraxinetum dem umayyadischen Emirat von Córdoba angehörten.
Der Bau einer Reihe uneinnehmbarer Befestigungen am Col de Maure sowie der Garnisonsbasis von Fraxinetum ermöglichte den Sarazenen, im Sommer Plünderungszüge in Richtung Burgund, Provence, Ligurien, Savoyen und Piemont zu unternehmen. Im Osten besetzten und plünderten die Truppen von Fraxinetum vorübergehend Oux, Aqui und Asti. Desgleichen ergriffen sie auch die Kontrolle über den Col du Mont Cenis, einen wichtigen transalpinen Gebirgspass und eine kritische Hauptverbindung des Pilgerwegs Via Francigena, der von Canterbury nach Rom führte.
Die sarazenischen Plünderungszüge nach Norditalien waren so grossflächig und zerstörerisch, dass sich die Mönche der Abtei Novalesa im fernen Turin in Sicherheit bringen mussten. Im Burgund und in der Provence plünderten und brandschatzten die Sarazenen Valence, Vienne, Toulon, Marseille, Aix-en-Provence, Fréjus und Embrun.
Fraxinetums Siege wiederum führten zu einer Migration aus dem islamischen Spanien und möglicherweise aus dem islamischen Sizilien. Bis um 930 war Fraxinetum von der angehäuften Beute und den Sklavinnen und Sklaven, die es von wehrlosen Klöstern und Kirchen geraubt hatte, reich geworden.
«Der allmächtige Gott wollte die Christinnen und Christen mit der Grausamkeit der Ungläubigen strafen und ein barbarisches Volk überfiel das Königreich der Provence und verbreitete sich überall. Es wurde sehr mächtig. Nachdem es den am stärksten befestigten Ort erobert hatte, um sich dort niederzulassen, zerstörte es alles und verwüstete viele Kirchen und Klöster.»
Auszug aus «Cartulaire de l’abbaye de Saint-Victor de Marseille», um 1005.
Plünderungszüge des Fraxinetums in die Schweiz
Der König der Provence, Ludwig der Blinde (reg. 887–928), konnte sich die Sarazenen nur mit Mühe vom Hals halten. Sein mit ihm verwandter Nachfolger und zum König von Italien erhobene Hugo I. bat seinen Schwager, den mächtigen byzantinischen Kaiser Konstantin Porphyrogennetos (reg. 917–963), ihm zu helfen, die Sarazenen 931 aus der Provence zu vertreiben.
Während die Byzantiner die sarazenischen Schiffe mit ihrem wirksamen «Griechischen Feuer» überfielen, wurden die Angriffe von Hugos Truppen aus der Provence und der Lombardei auf die Sarazenen in den Alpen mit wenig Erfolg gekrönt. Letztere hielten immer noch wichtige Pässe und Durchgänge in den Westalpen: den Kleinen St. Bernhard, Mont Cenis und Montgenèvre. Die Sarazenen starteten ihre Gegenangriffe von diesen Pässen aus, von wo sie einen grossen Teil der heutigen Schweiz überfallen konnten.
Die genauen Routen der Sarazenen bei ihren Plünderungszügen und Invasionen in den Schweizer Alpen sind nicht klar, aber es ist erwiesen, dass sie 939 das westliche Wallis plünderten und die Abtei Saint-Maurice überfielen. Der fränkische Geschichtsschreiber Flodoard von Reims (ca. 893–966) bestätigte diesen Angriff und hielt weiter fest, dass es die Sarazenen im Jahr 940 auf Pilgergruppen abgesehen hatten, die auf ihrem Weg nach Rom waren.
Etwa in der gleichen Zeit zerstörten die Sarazenen die Kirche Saint-Pierre in Bourg-Saint-Pierre, die erst 1010 wieder aufgebaut wurde. Aus überlieferten diplomatischen Briefen kann entnommen werden, dass um 936 Chur und seine Kathedrale ebenso wie eine Kirche in Schams während eines Plünderungszugs verwüstet wurden.
In seinen St. Galler Klostergeschichten bestätigt der Mönch und Geschichtsschreiber Ekkehard IV. (ca. 980 bis ca. 1056) die Anwesenheit sarazenischer Plünderer in der Ostschweiz. Zusätzlich beschreibt er aber auch, wie die St. Galler Mönche bei einem Angriff im Jahr 939 erbitterten Widerstand leisteten. Die Mönche des Benediktinerklosters von Disentis hingegen flohen in die Nähe von Zürich, als die Sarazenen ihr Kloster um 941 überfielen.
Nach einem Jahrzehnt immer wieder aufflammender Gefechte gelang es Hugo I., die Sarazenen zurück in die Provence zu drängen. 941 stand er bereit, um sie zu bezwingen und ihre innerste Verteidigungslinie bei Fraxinetum zu durchbrechen, als er die Nachricht erhielt, sein Rivale, der Markgraf Berengar von Ivrea, plane einen Einfall in die Lombardei. Von da an betrachtete Hugo die Sarazenen als wichtiges Mittel gegen die politischen Ambitionen Berengars ebenso wie jener von Berengars wichtigstem Unterstützer, dem König der Deutschen Otto I.
Einige Historikerinnen und Historiker gehen davon aus, dass Hugo I. möglicherweise auch um die Gunst des umayyadischen Kalifen Abd ar-Rahman III. (reg. 929–961) buhlte und diese diplomatischen Bemühungen der Anlass für seinen plötzlichen Kurswechsel in Bezug auf die Sarazenen gewesen sei.
Dank Hugos I. grosszügigem Bündnisvertrag konnten die Sarazenen vom Montgenèvre bis zum Septimerpass über jene Alpenpässe die Kontrolle zurückerlangen, die ins Piemont und in die Lombardei führen. Später übernahmen sie vorübergehend die Oberhoheit über den Monte Moro, den Simplon und den Lukmanier. Von ihren Basislagern in den Bergen aus plünderten sie im Sommer regelmässig die Schweizer Landschaften und griffen zwischen 952 und 954 immer wieder Chur und St. Gallen an. Die Sarazenen brandschatzten in den späten 950er-Jahren sogar bis in den Berner Jura.
«König Hugo, wie ungerecht ist dein Versuch, dein Königreich zu verteidigen! Herodes tötete viele unschuldige Menschen, um sein irdisches Königreich zu retten, aber du lässt Schuldige frei laufen, um ein Königreich zu erhalten …»
Liutprand von Cremonas Kritik an Hugos Bündnis mit den Sarazenen von Fraxinetum in seiner Antapodosis.
Bei ihrem Streben nach Plündergut erhielten die Sarazenen aber Konkurrenz von den Magyaren. Wie die Sarazenen machten sich die Magyaren die gesellschaftlichen und politischen Wirren Westeuropas im Zuge der karolingischen Teilung zu Nutze. Zwischen 898 und 955 fielen sie in weite Teile Westeuropas ein und waren auch für die bekannte Plünderung St. Gallens im Jahr 926 verantwortlich.
Die Sarazenen waren zwar Meister des Nahkampfs und alpiner Hinterhalte, hatten aber den Magyaren, die ausgezeichnete Reiter und Bogenschützen waren, nichts entgegenzusetzen. Dank der Steigbügel war es für die magyarischen Reiter ein Leichtes, mit Pfeilen und Krummsäbeln in rasantem Tempo über ihre Feinde herzufallen. Glaubt man der Geschichtsschreibung, besiegten herumtreibende magyarische Banden die Sarazenen in den Jahren 936 und 954.
Historische Quellen scheinen einen kurz darauf folgenden markanten Rückgang der sarazenischen Aktivität zu bestätigen. Der Tod von Abd ar-Rahman III. und die Besteigung des Throns durch seinen Sohn al-Hakam II. könnte eine weitere Erklärung für den allmählichen Rückzug der sarazenischen Truppen aus den Alpen sein. Anders als sein Vater verfolgte al-Hakam II. einen Kurs der friedlichen Beziehungen mit seinen christlichen Nachbarn in Spanien und Frankreich und führte stattdessen in Nordafrika gegen die Ziriden und Fatimiden Krieg.
Ohne die wichtige materielle Verstärkung aus Córdoba war Fraxinetum verletzlich für Angriffe. 965 gaben die Sarazenen Grenoble und 973 Gap auf, aber den Grossen St. Bernhard kontrollierten sie noch bis 972. Fraxinetums Fall erfolgte um 974, als Graf Wilhelm von Arles (ca. 950 bis ca. 993) mit verbündeten Adligen aus der Dauphiné, Provence, Nizza und Genua die Zitadelle nach der Schlacht von Tourtour dem Erdboden gleichmachte.
Die Sarazenen, die sich ergaben, wurden verschont, aber unzählige andere wurden in ihrer einstigen Bergfestung umgebracht. Auch nachdem sie getauft worden waren, wurden viele als Sklaven verkauft und andere ins Exil getrieben.
Einschätzungen und offene Fragen
In der frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung werden die sarazenischen Plünderungszüge in die Alpen als zerstörerisch und disruptiv dargestellt, wobei die Sarazenen als gerissen und mächtig porträtiert werden. Seit den 1800er-Jahren versuchen Historikerinnen und Historiker, die Folgen, Auswirkungen und Vermächtnisse der sarazenischen Invasionen festzustellen und zu beurteilen.
Der französische Orientalist Joseph Toussaint Reinaud (1795–1867) erforschte in seinem Werk «Invasions des Sarrazins en France et de France en Savoie, en Piémont et dans la Suisse» (1836) die Kooperation zwischen Ortsansässigen und Sarazenen und kam zum Schluss, dass Christen und Muslime eng verbandelt waren. Als direkte Folge davon fand zwischen den jeweiligen Bevölkerungen ein bedeutender Austausch der Technologien, Waren und Ideen statt.
Einige Wissenschaftler haben die These aufgestellt, dass die Sarazenen mit ihrer Invasion fortschrittliche Holzteerproduktionsmethoden ebenso wie den Buchweizenanbau nach Frankreich brachten. Andere vertreten die Ansicht, dass die Sarazenen die Europäer neue Keramik- und Stoffproduktionstechniken lehrten und das Tamburin als Musikinstrument mitbrachten.
In der Schweiz führte die Fülle an topografischen Namen und Nachnamen, die auf die historische Anwesenheit der Sarazenen anzuspielen scheinen, zur Überlieferung unzähliger genealogischer Mythen und Volkslegenden im Wallis und in Graubünden. Es sind indessen weitere Forschungen und archäologische Ausgrabungen notwendig, um diese zu bestätigen.
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