Mit Hilfe der Heimatlosen Klara Wendel hofften die Luzerner Behörden 1825 ein Komplott aufdecken zu können: den Mord am Luzerner Schultheissen Franz Xaver Keller.
Patrik Süess / Schweizerisches Nationalmuseum
Der Luzerner Schultheiss Joseph Karl Amrhyn war wie elektrisiert. Jetzt lag es endlich offen auf dem Tisch: Sein Vorgänger im Amt, Schultheiss Franz Xaver Keller, war an jenem stürmischen Abend im September 1816 nicht einfach an der gefährlichen Wegstrecke, die auch «der böse Weg» genannt wurde, «mit dem Fuss ausgeglitscht», in die Reuss gefallen und ertrunken, wie das gerichtsmedizinische Attest gemeint hatte. Es handelte sich im Gegenteil um nichts weniger als um einen «vollbrachten Regentenmord»!
Dass Kellers Tod Folge eines Anschlags ultramontaner Kreise gewesen sei, war als Gerücht in den politisch erhitzten Jahren der Restauration schon länger umgegangen. In den frühen 1820er-Jahren, als in Luzern eine Fehde zwischen der aristokratisch-konservativen, kirchenfreundlichen Partei und der frühliberal-staatskirchlichen Partei tobte, lebten Liberale wie Amrhyn in der ständigen Angst vor einer «Konterrevolution» und politischen Attentaten. Und nun endlich, im September 1825, hielt er den Schlüssel zu einer gigantischen Verschwörung in der Hand!
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Es sei der konservative Kleinrat Leodegar Corragioni gewesen, der damals vor neun Jahren eine Bande von Räubern, angeführt durch die Heimatlosen Josef Twerenbold und Hans Wendel, genannt «Krusihans», von ihrem abgelegenen Feuerplatz weg zum Landhaus des ebenfalls konservativen Staatsrats Joseph Pfyffer von Heidegg geführt habe, wo die Räuberbande nach fürstlicher Bewirtung den Auftrag zum Mord an Schultheiss Keller bekommen haben soll. Mit geschwärzten Gesichtern hätten sie daraufhin Keller aufgelauert und ihn in die Reuss geworfen. Nach der Tat seien die finsteren Gesellen mit zwei Gulden und vier Krontalern belohnt worden und hätten mit Corragioni und Pfyffer bis spät in die Nacht gefeiert.
So jedenfalls hatte es Klara Wendel, die Schwester des «Krusihans», berichtet. Und das sei noch lange nicht alles gewesen! Klara zufolge existierte eine weitverzweigte ultramontane Verschwörung quer durch das Luzerner Patriziat: Neben Pfyffer und Corragioni seien auch die Ratsherren Fleckenstein und Segesser sowie die päpstliche Nuntiatur daran beteiligt, zudem Chorrichter Blumer und zwei geheimnisvolle «welsche Pfaffen», welche sich angeblich darauf verstanden, Menschen totzubeten und denen Klara Wendel die Namen «Polentenfresser» und «Meitschifuxer» gegeben hatte.
Diese verschwörerische Clique, denen noch viel mehr Ratsherren und Pfarrer angehörten («Wenn ich durch die Stadt gehen könnte, so würde ich manchen kennen!», meinte Klara), habe schon etliche politische Gegner vergiftet und es existiere eine Liste von Personen, die man ebenfalls noch umbringen wolle. Dass auch Ratsherr Segesser zu den Verschwörern gehörte, musste Schultheiss Amrhyn besonders beunruhigen, war Segesser doch sein Schwiegervater!
Die Luzerner Regierung ordnete sofort höchste Sicherheitsmassnahmen an: Sie liess das Zeughaus durch Vertraute besetzen und beorderte eine Garnison in die Kaserne. Staatsrat Pfyffer und Kleinrat Corragioni wurden verhaftet und des Mordes angeklagt.
Niemand hätte mit einer solchen Entwicklung der Dinge gerechnet, als die 20-jährige Klara Wendel ein Jahr vorher, im Sommer 1824 in Einsiedeln (SZ) verhaftet wurde, weil sie dort Schnüre und Bändel verkauft hatte, die wohl aus einem Einbruch in Näfels (GL) stammten. Klara und ihre Familie gehörten zu einer Gruppe von fahrenden Heimatlosen, deren Zahl für die Schweiz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf einige Tausend geschätzt wird.
Diese Heimatlosen waren meist Nachkommen von Menschen, die im Verlauf der Frühen Neuzeit ihr Bürger- bzw. Heimatrecht in einer Schweizer Gemeinde verloren hatten. Seit im 16. Jahrhundert den Kommunen die alleinige Pflicht zur Unterstützung ihrer armengenössigen Bürger überantwortet worden war, wurden ärmere Bürger vermehrt aus dem Heimatrecht verdrängt. Zum Verlust des Heimatsrechtes konnte Straffälligkeit führen, aber auch eine zu lange Abwesenheit vom Heimatort, das Umgehen von Heiratsverboten oder illegale Konfessionswechsel. Ein solcher Heimatrechtsverlust führte in der Regel zur Vertreibung aus der Heimatgemeinde und zwang die Betroffenen in eine nicht-sesshafte Lebensweise.
Dieses Leben auf der Landstrasse war «ein ständiger Kampf ums Überleben und spielte sich in einem gesellschaftlichen Raum ab, der geprägt war durch permanente Repression und soziale Stigmatisierung». Man lebte von der Hand in den Mund – wenn man Glück hatte, konnte man sich als Gelegenheitsarbeiter verdingen, zuweilen blieb aber nur noch Kleinkriminalität zur Subsistenzsicherung. Klara Wendels Vater Niklaus zum Beispiel arbeitete als wandernder Zeinenmacher, während Mutter Katharina die Familie (Klara und vier weitere Kinder) zusätzlich mit Betteln und kleinen Diebstählen über Wasser hielt.
Als Klara Wendel verhaftet wurde, glaubte man zunächst, es auch hier mit einem typischen Fall von vagantischer Kleinkriminalität zu tun zu haben. Doch je länger die Verhöre dauerten, desto umfassender wurden Klaras Geständnisse. Nach sechs Monaten in Gefangenschaft hatte sie sich bereits zu 400 Diebstählen und Einbrüchen bekannt, die sie zusammen mit einer professionellen Bande von Gaunern begangen haben wollte, dann kamen auch noch Brandstiftungen und Morde dazu.
Zudem hätten sie und ihre Bande vorgehabt, Dutzende von weiteren Häusern und Kirchen in die Luft zu sprengen, um am Ende schliesslich das halbe Glarnerland niederzubrennen. Auch für den grossen Brand von Fläsch von 1822 seien sie verantwortlich gewesen. Sie seien nur deshalb noch nicht enttarnt worden, weil sie von «hohen Leuten» in Glarus beschützt würden, wie zum Beispiel von den Ratsherren Gallati und Landolt, welche öfters den Feuerplatz der Fahrenden besucht, sich dort in Räuberkluft geworfen und dann bei den Raubüberfällen der Bande mitgemacht hätten.
Die Behörden waren aufs höchste alarmiert: Neben den Verbrechen an sich verwischten sich hier also auch noch auf gefährlichste Art und Weise sämtliche Gesellschafts- und Standesgrenzen! Als Klara schliesslich behauptete, ihr Bruder und seine Kumpane hätten Schultheiss Keller ermordet, wurde sie von Glarus zum Prozess nach Luzern überstellt.
Klara Wendels Aussagen führten zu einer regelrechten Hetzjagd auf heimatlose Fahrende. Sogenannte «Betteljagden» hatte es schon in den Jahrhunderten zuvor gegeben; die aufgegriffenen Heimatlosen waren meist einfach, nachdem man sie geprügelt, gebrandmarkt oder ihnen die Ohren geschlitzt hatte, über die Kantonsgrenzen getrieben worden. Diesmal aber waren die Behörden der festen Überzeugung, eine «höchst gefährliche Räuberbande» überführt zu haben. Sie steigerten sich geradezu in eine Panik vor einer ganzen «Gegengesellschaft von Gaunern» hinein. Am Ende wurden 17 Männer, 22 Frauen und 27 Kinder verhaftet.
Nach monatelanger Gefangenschaft in Luzern, bei systematischer Misshandlung und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen, folgten dann auch Geständnisse im Sinne Klaras und der Behörden. Klaras Bruder Hans Wendel war bereit alles zu gestehen, was die Verhörrichter hören wollten, denn «das Leben sei ihm verleidet». Der ebenfalls von Klara im «Mordfall» Keller schwer inkriminierte Josef Twerenbold starb an den Haftbedingungen.
Die Luzerner Behörden aber waren stolz auf ihren Erfolg: In einer eigens einberufenen Konferenz wurden die anderen Kantone über die Vorgänge in Luzern informiert. Auch das Ausland berichtete über den sensationellen Coup, welcher der Luzerner Regierung im Kampf gegen das organisierte Verbrechen und dessen politische Helfershelfer gelungen war; in Paris wurde das Theaterstück «Clara Wendel ou La Demoiselle Brigand» uraufgeführt.
Doch bald regte sich Kritik an der Art und Weise, wie die Verhöre geführt und die Geständnisse erlangt worden waren. Und als dann der Prozess im Dezember 1825 von Luzern nach Zürich verlegt und neue Verhörrichter eingesetzt wurden, brach die ganze Anklage in sich zusammen. Der Zürcher Verhörrichter Heinrich Escher kam zum Schluss, dass die bisherigen Verhöre mit ihren unzähligen Suggestionsfragen und bei dauernder Androhung von schweren Strafen bei allfälligem Abstreiten der Verbrechen einer «schlechten Komödie» glichen.
Es lägen schlicht keine Beweise oder auch nur Indizien für all diese angeblichen Untaten vor. Im Gegenteil seien diese Verbrechen im Verhör gar nicht ermittelt, sondern erst konstruiert worden, da die Behörden geradezu darauf versessen gewesen seien, eine gefährliche Räuberbande dingfest zu machen und eine politische Verschwörung aufzudecken. Dazu habe man Klara Wendel, ein «einbildisches Gaunermädchen», systematisch zur Kronzeugin aufzubauen versucht, indem man ihr eine Vorzugsbehandlung angedeihen liess und sie für jedes weitere «Geständnis» belohnte. Escher schloss: «Wahrlich, dieses Verfahren wäre, wenn es in seinen Ursachen und Folgen nicht eine allzu ernsthafte Seite hätte, belustigend.»
Sobald Escher die Verhöre übernommen hatte, widerriefen die Angeklagten alle ihre erpressten Geständnisse. Schliesslich gab auch Klara Wendel zu, nie an einem Mord, Totschlag oder Brand teilgenommen und auch «nie so etwas gesehen» zu haben. Auf die Frage, warum sie all diese falschen Angaben gemacht habe, antwortete sie, dass die Verhörrichter sie «oft Sachen fragten, von denen ich nichts wusste und liessen mir keine Ruhe, bis ich es angab. (…) Die Leute meinten immer, ich wisse so viel; s’ist wahr, ich wusste viel, aber doch nicht so Donners viel, als man mir zutraute.» Wie oft habe sie gesagt, «es wird niemand dies alles glauben, dann antworteten sie mir, wenn dirs niemand glaubt, so glauben wir dirs. (…) Ich wollte lieber, ich hätte den Hals und alle Viere gebrochen, als dass ich von dieser ‹Keibengeschichte› etwas angefangen.»
Corragioni und Pfyffer wurden freigesprochen und aus der Haft entlassen. Drei der verhafteten Heimatlosen jedoch wurden als «unverbesserliche Diebe» hingerichtet. Und Klara Wendel bekam wegen wiederholtem Diebstahl zwölf Jahre Zuchthaus.
Heimatrecht für alle
Durch den «Gauner- und Kellerhandel» rückte die «Heimatlosenfrage» endgültig ins Zentrum der eidgenössischen Politik. Man suchte nun nach Massnahmen, «um mit gehöriger Kraft dieses die öffentliche Sicherheit gefährdende Gesindel auszurotten». Die Lösung der «Heimatlosenfrage» und der Kampf gegen das «Gaunerunwesen» wurden eins.
Mit dem Bundesgesetz von 1850 wurde der Bund beauftragt, allen schweizerischen Heimatlosen ein Heimatrecht in einer Gemeinde auszumitteln. Als Kriterien für den Einbürgerungsort galten etwaige bereits existierende Duldungsberechtigungen, der Verheiratungsort der Eltern oder der längste De-facto-Aufenthalt seit dem Jahr 1803. Den Gemeinden wurde verboten, ihren Bürgern das Heimatrecht wegen Straffälligkeit oder Abwesenheit zu entziehen.
Im Rahmen einer gesamtschweizerischen Fahndungswelle nahmen die kantonalen Polizeistellen 1852 Hunderte Nicht-Sesshafte in Haft und transportierten sie nach Bern, um sie von dort aus ihren neuen Heimatgemeinden zuzuweisen. Das Bundesgesetz gab den Heimatlosen zwar einerseits das Recht auf einen Heimatort, andererseits verpflichtete es sie aber auch zur Sesshaftigkeit.
Das konnte dazu führen, dass die Neubürger noch jahre- oder jahrzehntelang in ihren Heimatorten zwangseingegrenzt und einer «väterlichen Polizeyaufsicht» unterworfen wurden, «damit in ihnen (…) der schwer zu besiegende Hang zum Herumschwärmen, die Scheu vor bleibender Arbeit nach und nach erlösche». Weiterhin «berufslos herumziehende Vaganten und Bettler» wurden zu Gefängnis- und Zwangsarbeitsstrafen verurteilt.
Ein besonders dunkles Kapitel dieser Zwangsassimilation bildeten die Kindswegnahmen. Familiale Gemeinschaften von «Vaganten» wurden bewusst zerstört, um die Kinder den «verderblichen Einwirkungen» der Eltern zu entziehen, oder wie die Gemeinnützige Gesellschaft Luzern schon 1826 betonte: Die Tatsache, dass «schon das Wiegenkind die Bosheit so lasterhafter Eltern mit der Muttermilch einsaugt (…), hat in uns den menschenfreundlichen Entschluss erweckt, diese Kinder ihrem unvermeidlichen Verderben zu entreissen» und sie «bei anerkannt moralisch guten Familien» unterzubringen, (…) um ihnen die Wohlthat christlicher Erziehung und bürgerlicher Versorgung zukommen zu lassen» und sie so «aus Feinden der menschlichen Gesellschaft zu nützlichen Mitgliedern derselben» umzubilden.
Was dann im 20. Jahrhundert vom 1926 gegründeten «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» im grossen Stil betrieben wurde, begann bereits 100 Jahre früher mit den ersten Kindswegnahmen im Gefolge des Luzerner «Gauner- und Kellerprozesses».
Während ihr Bruder Hans bereits 1831 im Zuchthaus gestorben war, blieb Klara Wendel bis 1837 in Haft. Dann wurde sie provisorisch der Gemeinde Luzern zugeteilt und lebte dort als Armengenössige viele Jahre als Zwangsinsassin in einer «Korrektionsanstalt», bis sie dann endgültig in Luzern eingebürgert wurde. Die letzten Jahre ihres Lebens wohnte sie in Malters und St. Urban, wo sie 1884 im Alter von 80 Jahren starb.
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