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Das Spiel ist der Weg der Kinder zur Erkenntnis der Welt. Und wer Glück hat, muss diesen Pfad auch als Erwachsener nicht verlassen. Denn Spielen hält ältere Gehirne nicht nur fit, es düngt sie förmlich und lässt sie neue Synapsen ausbilden, neue Verknüpfungen herstellen, die ansonsten brach gelegen hätten. Je mehr Netzwerke der Mensch miteinander verschaltet, desto grösser wird sein Einfallsreichtum, seine Kreativität.
Ohne ein solches Spiel der Möglichkeiten käme nichts grundsätzlich Neues in unsere Welt. Bahnbrechende Erfindungen sind stets das Ergebnis eines erfolgreichen Spiels mit den Grenzen der Wirklichkeit. Denn nur so lassen sich diese ab und an verschieben – das Leben als verrücktes Labyrinth.
Wer nicht zu spielen verlernt, der kommt also wahrscheinlich nicht nur besser, sondern auch heiterer und lustvoller durchs Leben. Und auch durch den Tod, wie unser Beispiel aus dem alten Ägypten zeigt.
Lasst uns an den Spielen längst vergangener Kulturen teilhaben und dafür Tutanchamuns Grab, den Heiligen Hain von Olympia und Roms Circus Maximus betreten.
«Ludi incipiant!»
Die Spiele mögen beginnen!
Die alten Ägypter: Ein Spiel, das dir den Weg ins Jenseits weist
Rund 5400 Grabbeigaben fand der britische Archäologe Howard Carter, als er im November 1922 KV62 betrat – das Grab des Tutanchamun im Tal der Könige in West-Theben.
Die Vorkammer des Grabes von Tutanchamun, 1922. Bild: Hulton Archive
«Ich sehe wunderbare Dinge.»
Howard Carter
Wahrlich sah er das, als das Geröll, das den Gang zur Vorkammer verschüttet hatte, aus dem Weg geräumt war. Geblendet von all dem glänzenden Gold, das den Thron, die Streitwagen und die tierköpfigen Ritualbetten zierte, auf denen der um ungefähr 1323 v. Chr. gestorbene Pharao während seiner Mumifizierung lag, auf dass er sich in geheimen Ritualen mit der Himmelsgöttin vereinen und zur unsterblichen Sonne werden konnte. Darunter lagen seltsame, eierförmige Gipsschalen voll mit konserviertem Rinderrund und Gänsefleisch. Der Pharao sollte auf seiner Reise durchs Jenseits nicht verhungern.
Und er sollte spielen. Allein vier von insgesamt 80 Senet-Spielbrettern wurden im Grab des Tutanchamun gefunden.
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Nun zurück zur Story:
Senet ist ein Fluchtspiel für zwei Personen, eine durch über 3000 Jahre hindurch gespielte (von 3000 v. Chr. bis in die nachchristliche Zeit um 300) altägyptische Kreuzung zwischen Backgammon und Eile mit Weile. Ziel des Spiels ist es, die eigenen sieben Spielfiguren, die sogenannten Ibau (Tänzer), vom Brett zu bekommen. Gewürfelt wurde mit Zählknochen, die auf jeder Seite eine unterschiedliche Anzahl an Zählstrichen aufwiesen.
Über die drei Zehnerreihen verteilt gab es vier Felder, die entweder Glück oder Unglück brachten: Das Feld mit dem Wasser beispielsweise spülte die darauf stehende Figur zurück in die vorherige Reihe, die Kröte hingegen verdoppelte den nächsten Punktewurf des Spielers. Die letzten drei Felder sind mit den Zahlen 3, 2, 1 versehen – das Spielfeld kann nur verlassen werden, wenn die betreffende Zahl geworfen wird.
«Senet» bedeutet in der altägyptischen Sprache «passieren» oder «durchschreiten» und ebendies sollte dem Spieler auch ermöglicht werden: Den Übergang ins Jenseits – die gefährliche Reise durch die Unterwelt, die von Dämonen bevölkerte Duat, sollte unbeschadet überstanden werden.
Denn das Spiel mag einst als reine Freizeitbeschäftigung erdacht worden sein, es hat sich aber schon sehr bald sehr tief mit der altägyptischen Glaubenswelt, mit den Riten und Mysterien der Wiedergeburt verbunden.
Deshalb fand man vier Senet-Spielbretter in Tutanchamuns Grab und deshalb wurden sie auch an die Wände anderer Ruhestätten von sozial hochrangigen Personen gemalt.
Anfangs war das Senet-Spiel Teil der Begräbnisfeierlichkeiten, an dem bloss die Lebenden teilnahmen. In der sechsten Dynastie (2347 bis 2216 v. Chr.) jedoch tauchen Darstellungen auf, die den Verstorbenen selbst beim Spiel gegen einen lebenden Gegner zeigen.
Senet wurde zur Brücke zwischen den Lebenden und den Toten, und der Spieltisch diente dabei als Ort der Konversation, im täglichen Leben sowie danach.
Im Mittleren Reich (2137 bis 1781 v. Chr., 11. bis 12. Dynastie) schliesslich hatte es nichts mehr von einem heiteren Gesellschaftsspiel, sondern war vielmehr ein geheimes Ritual, das während der Mumifizierung und Bestattung vollzogen und in Form von Zaubersprüchen an die Sargdeckel von hohen Beamten, Priestern, Königen und ihren Gemahlinnen angebracht wurde:
«Lass ihn Senet mit denen spielen, die auf der Erde sind. Es ist seine Stimme, die gehört wird, auch wenn er nicht gesehen werden kann.»
Sargtext, Zauberspruch 335
Das Spiel sollte dem Verstorbenen helfen, nicht in die Fallen und Schlingen jener düsteren Unterwelt westlich des Nils zu tappen, all die Prüfungen zu bestehen, um sich schliesslich der alles entscheidenden stellen zu können: dem Totengericht des Osiris.
Im Neuen Reich (1550 bis 1070 v. Chr., 18. bis 20. Dynastie) tauchen dann Senet-Darstellungen auf, die die Dahingeschiedenen beim Spiel gegen einen unsichtbaren Gegner zeigen.
Die Grabmalerei der Nefertari (19. Dynastie) zeigt sie beim Senet-Spiel gegen einen unsichtbaren Gegner.bild: wikimedia
Nefertari, die Grosse königliche Gemahlin von Ramses II., spielt hier wohl gegen ihren Ba, den Teil der menschlichen Seele also, der sich gemäss altägyptischen Glauben vom Körper ablösen und entfernen kann. Der Teil auch, der sich bei einem positiven Urteil des Totengerichts mit dem gereinigten Leichnam wiedervereinigt und in den lichten Teil der Unterwelt, in die Gefilde der Binsen (Sechet-iaru), eintreten darf.
So wurde Senet im Laufe seiner 3000-jährigen Spielzeit vom vergnüglichen Brettspiel zum exklusiven Ticket ins Jenseits. Anfänglich zum Zwecke reiner Geselligkeit auch in den Häusern der ärmeren Schichten gespielt, verwandelte es sich in ein Ritual-Objekt, zum Zwecke der Bestattung hergestellt. In ein Medium, das das Reich der Toten mit dem der Lebenden verband. Zuletzt war das Senet-Spiel eine mit Zaubersprüchen geschützte Grabbeigabe, die den sicheren Übergang in die Duat garantieren sollte. Und in deren tieferen Geheimnisse der gemeine Ägypter nicht eingeweiht wurde.
Wie auch, die Religion auf solch hohem Niveau diente allein der Elite, der des Lesens und Schreibens kundigen Oberschicht. Ihr allein war dann auch ein Nachleben an der Seite der Götter vergönnt. Ein Leben im Sechet-iaru, ein windreicher Ort, wo man sich dem süssen Nichtstun hingeben konnte.
Und darum wohl auch jede Menge Zeit zum Spielen hatte.
Denn das althochdeutsche «spil» meint auch in unseren Breitengraden Tanz, Musik und Wettkampf, bedeutet Unterhaltung, Vergnügen, Scherz, ist Zeitvertreib, ist das Gegenteil von Müssen, von Pflichterfüllung und Arbeit. Das Spiel ist leicht und lebendig.
Nach Friedrich Schiller macht das Spiel aus dem Menschen überhaupt erst einen Menschen:
«Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen», leitet er seine Wahrheit 1795 gewichtig ein:
«Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.»
Friedrich Schiller, «Über die ästhetische Erziehung des Menschen» (1795)
Recht hat er. Und natürlich war der deutsche Dichter nicht der Erste, der das wahre Wesen unserer Spezies erlickt hat. Die alten Griechen haben das lange vor ihm getan. Und gleich auch am radikalsten vorgelebt. Die Hellenen hatten das Leben zum Spiel und das Spiel zum Leben erhoben.
Die alten Griechen: Olympia, der spielerische Gottesdienst
Raffaels «Das Konzil der Götter», Detail aus der Loggia von Amor und Psyche in der Villa Farnesina in Rom, 1518. Bild: De Agostini Editorial
Was macht man, wenn man nichts zu tun hat? Sich langweilen – oder eben spielen. Beides taten die olympischen Götter geradezu professionell. Der ewige Kosmos war schon immer da, da gab’s keine Welt zu schöpfen wie in der Bibel, also vertrieben sie sich die Zeit im Kampf- oder Liebesspiel. In Letzterem tat sich vor allem Göttervater Zeus hervor, der zwischen 45 und 66 Kinder zeugte. Vier davon mit seiner Gattin und Schwester Hera, die ob seiner dreisten Fremdgängerei nicht selten in rasende Eifersucht verfiel.
Zu zwölft hockten sie also da auf ihrem umwölkten Götterberg wie auf einem himmlischen Spielturm und spielten ihre Spielchen mit dem Erdenball. Jeder auf seine ganz eigene Weise: Poseidon, der Gott des Meeres, plagt den armen Odysseus zehn Jahre lang mit Stürmen, Apollon, der Gott der Künste, schenkt dem Sänger Orpheus seine Lyra, während Athene, die Göttin der Weisheit, Perseus für seinen Kampf gegen die schlangenköpfige Medusa mit einem verspiegelten Schild ausstattet. Sie alle stehen für einen Aspekt des Lebens, sind Verdichtungen des Seins – und ihnen, ihrem verspielten Wesen zu Ehren, veranstalteten die Griechen ihre Spiele.
«Odysseus (Sehnsucht nach der Heimat)», gemalt von Alexander Rothaug, vor 1924. Da er den einäugigen Riesen Polyphem geblendet hatte, strafte ihn Poseidon mit einer zehnjährigen Irrfahrt zur See. Denn der Meeresgott war der Vater des menschenfressenden Zyklopen. Bild: Hulton Fine Art Collection
Ständig. An Geburtstagen, Begräbnissen und dazwischen. Selbst ihre Zeitrechnung folgte dem Zyklus der wichtigsten unter ihnen, den Panhellenischen Festspielen zu Olympia, die 776 v. Chr. zum ersten Mal stattfanden, um sich dann in einer vier Jahre umspannnenden Olympiade zu wiederholen. Etwas, was sie seit ihrer Renaissance 1894 bis zum heutigen Tage auch wieder tun.
Nur nicht mehr unbedingt zu Ehren des mächtigen Göttervaters Zeus. Er war der Grund, warum bis zu 100’000 Besucher in den Heiligen Hain von Olympia auf der Halbinsel Peloponnes strömten. An den eigentlichen, von freien nackten Männern bestrittenen Wettkämpfen (Agonen) aber waren bloss Vollbürger und unverheiratete Frauen zugelassen. Die Priesterin der Demeter bildete dabei die Ausnahme, sie durfte auf einem steinernen Thron an der Nordseite des Stadions sitzen. Allen anderen drohte bei Missachtung die Todesstrafe.
Man stiess allerdings niemanden vom nahe gelegenen Felsen Typaion, wie es das Gesetz im Falle einer Übertretung verlangte. Auch nicht die kahl geschorene Kallipatira von Rhodos, die sich 404 v. Chr. als Trainer verkleidet ins Stadion schlich. Als sie ihrem siegreichen Sohn in die Arme stürzen wollte, blieb sie mit den Fransen ihrer Tunika an der Absperrung hängen und zack, war ihr wahres Geschlecht offenbart.
Man verstand ihre Inbrunst. Ihr Vater und ihre Brüder waren Olympioniken gewesen, mit Ölzweigen bekränzte Siegerhäupter – und nun war es auch ihr Sohn. An ihnen allen war das Wesen des Göttervaters am sichtbarsten geworden, seine Stärke und Kraft.
Panathenäische Amphore, ein Siegespreis aus der Zeit um 530 v. Chr., der einen Wettlauf darstellt und dem Maler Euphiletos zugeschrieben wird, heute im Metropolitan Museum of Art in New York zu bestaunen.Bild: Metropolitan Museum of Art
Die Olympischen Spiele waren rein athletischer Natur, die Männer massen sich im Lauf, im Fünfkampf (Diskuswerfen, Weitsprung, Speerwerfen, Stadionlauf, Ringkampf), im Wagenrennen und in der Schwerathletik, zu der neben dem Ring- und Faustkampf auch der Allkampf gehörte, bei dem bis auf Beissen und Bohren in den Augen alles erlaubt war.
Gekämpft wurde, bis ein Gegner aufgab, ausgeknockt wurde oder starb.
Die Spiele zu Ehren Apollons – Pythische Spiele oder Delphische Spiele genannt – wurden durch Musik-, Tanz, Schauspiel- und Malwettbewerbe ergänzt. So wie es dem Gott der Künste gebührte. Auf diese Weise verband sich der Wettkämpfer mit der apollinischen Facette des Lebens. Es war ein Aufgehen in dessen göttlicher Meisterschaft, die griechische Version eines Gottesdienstes.
Auf jenen antiken Spielstätten verbanden sich Sport und Kult, Weihehandlung und Wettstreit, Leben und Spiel zu einem einzigen grossen Fest.
Den Griechen ging es darum, die Seele im Laufe ihres Lebens zur vollen Blüte zu bringen, sie zu bilden, zu kultivieren und mit dem Leib in Einklang zu bringen, um so ein wenig am ewig Wahren, Guten und Schönen teilhaben zu können. Sich Gott anzugleichen versuchen, wie Platon schreibt. Was bei seinen Göttern nichts anderes bedeutete als zu spielen, wie diese spielten. Nur mit dem Unterschied, dass das Menschenspiel durch Raum, Zeit und Möglichkeiten begrenzt ist.
Nachdem aber dieser Raum, die heiligen Städte von Olympia und Delphi, im ersten vorchristlichen Jahrhundert von den Römern zerstört worden war, war das griechische Spiel aus. Es lebte zwar in der Erobererkultur weiter, aber natürlich mit der nötigen Angleichung an die römische Seele.
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Zurück zur Story!
Die alten Römer: Das politische Machtspiel
Natürlich kannten die Griechen neben jenen sportlichen Grossereignissen auch jede Menge Gesellschaftsspiele, mit denen sie sich die Zeit vertrieben. Und auch diese übernahmen die Römer.
Viele der von den Römern übernommenen Gitter-Spielbretter stammen aus hellenistischer Zeit. An einem dem heutigen Damenbrett gleichenden Spieltisch wurden verschiedene Spiele ausgetragen, so zum Beispiel Latrunculi (dt. Soldaten, Söldner), das beliebteste Spiel der Römer, besonders von den Legionären zum Zeitvertrieb geschätzt. Wenn gerade keine Schlacht anstand, dann schlug man sie eben auf dem Spielbrett; mit 30 Figuren, die der Spielweise des Schachs ähnlich wie Bauern oder Pferde verschoben werden konnten. Ein reines Strategiespiel also, das überall öffentlich gespielt werden durfte, ganz im Gegensatz zum Glücksspiel, das in Rom wegen seines angeblich verderblichen Einflusses auf den Charakter seit dem 3. Jh. v. Chr. verboten war. Der Latrunculi-Gewinner durfte sich Imperator nennen und zur Schmach seines Gegners auf dessen Rücken durch die Strassen reiten.
bild: Llandudno Museum
Wir wollen hier aber bei den grossartig inszenierten römischen Spielen verweilen, den fürs Volk veranstalteten Gladiatorenkämpfen, Tierhetzen, Wagenrennen und Theatervorführungen, die während der Zeit, als Rom noch eine vom Senat regierte Republik war (vor 27. v. Chr.), mehr oder weniger bescheiden ausfielen. Zwar versuchten sich die für die Ludi Publici zuständigen Magistraten schon damals gegenseitig zu übertrumpfen, aber das, was an Pomp, Pracht und Opulenz im Kaiserreich entfaltet wurde, stellte alles Vorangegangene in den Schatten.
Kaiser Claudius (41 n. Chr. – 54. n. Chr.) bürgerte die Zurschausstellung von Strafe ein: Seither war die Urteilsvollstreckung Teil des Spektakels. Verurteilte Räuber und Mörder wurden als untrainierte und schutzlose Gladiatoren in die Arena geschickt, mussten als Ikarusse mit lächerlichen Flügeln zu Tode stürzen. Nero bestrafte die Christen, indem er sie – so berichten es zumindest Tacitus und Clemens von Rom – in Felle wilder Tiere einnähen und von Hunden zerfleischen liess. Als brennende Fackeln erleuchteten sie des Nachts seinen eigenen Garten, während er die Christinnen bei Tag im Zirkusspiel an die Hörner von Stieren fesseln liess und so dem grausamen Tod überliess, den auch die mythologische Dirke sterben musste. Das Bild stammt vom polnischen Historienmaler Henryk Siemiradzki, 1897.
Die Cäsaren konnten aus dem Vollen schöpfen. Faktisch herrschte ein ruinöser Zentralismus, da war kein Feldherr mehr, der die Spiele des Kaisers hätte konkurrenzieren können, kein Magistrat, der mit seinen Gladiatoren die des Imperators hätte schlagen können. Der amtierende Kaiser war zum einzigen Spielgeber und Besitzer der besten Kämpfer im Reich geworden.
Jene Spiele aber waren von sozialpolitischen Zwängen und Pflichten derart durchdrungen, dass sie keine freie, unbeschwerte Freizeitbeschäftigung mehr waren, sondern eine nicht nur für die Teilnehmer oftmals lebensbedrohliche Angelegenheit:
Der Kaiser seinerseits war gezwungen, jene Massenvergnügungen abzuhalten. Er herrschte zu einem grossen Teil durch demonstrative Wohltätigkeit (Euergetismus), was nach altrömischer Sitte bedeutete, dass er aus wahrer Freigiebigkeit heraus Spiele fürs Volk zu organisieren hatte, der Gemeinschaft aber ebenso mit neuen Strassen und sauberen Latrinen dienen musste. Als vorausschauender Beschützer sollte er sich also hervortun.
«Die seriösen Vorhaben zu vernachlässigen ist zwar schädlicher, aber die Vergnügungen zu vernachlässigen ist unpopulärer.»
Der römische Rhetoriker und Anwalt Marcus Cornelius Fronto (ca. 100 n. Chr. – 170 n. Chr.)
Die Realität sah eher so aus, dass die plebs urbana, also jene in der frühen Kaiserzeit bereits eine Million Menschen zählende Stadtmeute in Rom, aufmuckte, sobald es wieder einmal zu Engpässen in der Versorgung kam. Dann musste das aus Ägypten herangeschiffte Getreide auf Karren in die Stadt transportiert werden. Und dann mussten Spiele her. «Panem et circenses», wie der römische Satirker Juvenal (1.–2. Jh. n. Chr.) ausrief und damit die Verrohrung der römischen Bürgerpflichten und -freiheiten beklagte.
Zu Ende war’s mit der römischen Volksversammlung, wo die Bürger einst über Krieg und Frieden, über Steuern und Getreide entschieden. Nun ist es jener sich prügelnde Haufen aus Handwerkern, Sklaven und Weibern, der im Theater pfeifend, klatschend oder in lauten Sprechchören nach einer Steuersenkung verlangt.
Die Politik, in Form plumper Forderungen, hatte sich also in die Ränge des Theaterrunds verlagert und wurde nunmehr vom Pöbel bestimmt.
Zumindest teilweise, wie das vom nicht ganz neutralen Geschichtsschreiber Sueton geschilderte Verhalten von Kaiser Caligula (37 n. Chr. – 41. n. Chr.) beweist:
Um seine Verschwendungssucht zu finanzieren, fand jener Imperator täglich neue Wege, das Volk auszupressen. Eine Methode waren neue Steuern, auf die täglichen Gewinne von Lastträgern beispielsweise, auf jene von Kupplern und Prostituierten, selbst von ehemaligen, längst Verheirateten forderte er noch Geld. Die neuen Gesetze liess er einfach verkünden, ohne sie schriftlich aushängen zu lassen, was zu vielen Übertretungen wegen Unwissens führte. Und als sich das Volk im Theater lauthals über jene Unsitte beklagte, liess Caligula seine Bestimmungen in so kleiner Schrift und an einem so unzugänglichen Ort anschlagen, dass niemand eine Kopie davon anfertigen konnte.
Der Kaiser hielt das Volk zum Narren! Einmal mehr begegnete er der politischen Willensäusserung des Volkes mit bitterstem Sarkasmus.
Jene Abhängigkeit vom Begehren der Plebs missfiel ihm so sehr, dass er all ihren Wünschen entgegenhandelte:
«Freilich, die Sache stand nicht gleich zu gleich, denn die einen konnten nichts tun als reden oder durch ihre Gesten etwas ausdrücken, Caligula dagegen liess viele mitten aus der Vorstellung wegschleppen, viele auch nach dem Verlassen des Theaters festnehmen und umbringen.»
Sueton, Kaiserviten, Caligula
Er mochte es nicht, wenn sie seine Spiele nicht gebührend zu würdigen verstanden, die Aufführenden nicht lobten oder beim Wagenrennen statt seiner geliebten «Grünen» eine andere der insgesamt vier Zirkus-Parteien anfeuerten.
Ettore Fortis «Circus Maximus», um 1900. Die römischen Wagenlenker hielten die Leinen nicht nur in der Hand wie die Griechen, sondern schlangen sie sich um den Arm oder um den Körper. Der Halt war dadurch besser, aber wenn sie durch einen Zusammenstoss oder dem Schubsen und Schlagen eines Gegners in der Kurve vom Wagen fielen, liefen sie Gefahr, von ihren Pferden mitgeschleift zu werden, was nicht selten geschah. Das mitgeführte Messer sollte sie aus jener misslichen Lage befreien. Die Gespanne umrundeten die Spina – jene langgestreckte Mauer in der Mitte der Rennbahn – sieben Mal gegen den Uhrzeigersinn. Auf der Spina befand sich im Circus Maximus ein Gestell mit sieben absenkbaren hölzernen Eiern, an denen die zurückgelegten Runden abgelesen werden konnten. Später wurden sie mit sieben marmornen Delfinen ersetzt, um den Meeresgott Neptun zu ehren, der nach römischem Glauben der Schöpfer der Pferde war.
bild: artnet
Um den Pöbel für seinen Ungehorsam zu bestrafen, liess Caligula bei Gladiatorenspielen, wenn die Hitze besonders brennend war, die Sonnendächer zurückziehen und befahl allen, sitzenzubleiben.
Das berühmte Gemälde des französischen Historienmalers Jean-Léon Gérôme, 1872: Es heisst «Pollice Verso» (lateinisch: «mit gedrehtem Daumen»), wie die in zwei antiken Texten überlieferte Geste, mit der bei Gladiatorenspielen das Publikum den Tod des Unterlegenen fordern konnte. Wie genau der Daumen gehalten wurde, ist allerdings bis heute nicht klar, Gérômes blutrünstige Vestalinnen (inspiriert durch den Beschrieb eines Amphitheater-Besuchs der Jungfrauen im Gedicht Contra Symmachum des christlich-spätantiken Dichters Prudentius) haben jedoch bis heute die Vorstellung geprägt, dass ein nach unten zeigender Daumen für die Todesforderung steht.Bild: wikimedia
Es kam vor, dass sich der Kaiser verstimmt nach Campanien verzog und andere mit der Leitung der Spiele beauftragte, nur um dann wieder zurückzukehren, und das Volk während zweier Tage mit kostenlosen Spielen zu beschenken.
«Wenn ihr doch nur einen einzigen Nacken hättet!»
Caligula in Suetons Kaiserviten
Es waren zu viele. Selbst der grösste Kaiser konnte ihre Wünsche nicht ignorieren. Die Plebs reagierte mit Tumulten und Aufständen, sie stürmte Circus und Theater, wenn ihr Unmut ungehört zu verebben drohte. Diese konnten zwar niedergeschlagen werden, aber auf lange Sicht liess es sich so nicht regieren, dafür war der Ordnungsapparat zu dürftig.
Jene öffentlichen Spielstätten waren also abgesehen von ihrem unterhaltenden Charakter auch immer Orte sozialpolitischer Manifestation. Das verriet allein schon die Sitzordnung, die die Hierarchie der römischen Gesellschaft widerspiegelte: Da sassen die Senatoren vor den Rittern, die Verheirateten vor denen, die es nicht waren, und zuhinterst, auf den Stehrängen, sammelten sich die togalosen Pullati, Frauen und Sklaven.
Es galt: Sehen und gesehen werden. Welcher Würdenträger tauchte nicht auf? Welcher Magistrat wird mit Akklamationen begrüsst, welcher mit garstigem Gepfeife in Empfang genommen?
Schliesslich gab es einen Kaiser, der die ganze Ordnung auf den Kopf stellte: Nero (54 n. Chr. – 68 n. Chr.), der selbst die Bühne betrat, mit einer Hand das Zepter schwingend, mit der anderen nach dem Siegeskranz heischend, zwang er ganz Rom sein dünnes Stimmchen auf.
Das Gewand des Kitharaspielers mochten die Insignien der Macht nicht verdecken, von bezahlten Claqueren beklatscht und von seiner Leibgarde begleitet, blieb er stets nur ein als Künstler verkleideter Kaiser:
«Während er sang, war es nicht gestattet, das Theater zu verlassen, auch nicht in dringenden Fällen. So erzählt man, dass einige Frauen sogar während der Vorstellungen geboren hätten und viele Leute, des Zuhörens und Lobens müde, entweder, da die Stadttore geschlossen wurden, heimlich von der Mauer gesprungen seien oder sich totgestellt hätten, um so herausgetragen werden zu können.»
Sueton, Kaiserviten, Nero
Am Ende ist eben auch Politik blosses Theater, ein Spiel mit der Macht.
Gewinnen tut der, der die Spielregeln nicht überstrapaziert. Nero und Caligula aber taten genau das, sie verletzten zu viele urrömische Gefühle und Sitten, lebten allzu eigenwillig ihre kaiserliche Macht aus, sodass sie nach ihrem Tod nicht zu Göttern erhoben wurden, sondern einer Damnatio memoriae anheimfielen, einer Auslöschung und Verfluchung ihres Andenkens: Der Schmutz sollte auf ewig an ihren zerstörten Namen kleben bleiben.
Das Spiel in den Dreck zu ziehen, lohnt sich also nicht. Am besten hält man es gänzlich frei von Machtbestrebungen und ökonomischen Instrumentalisierungsversuchen, auf dass der einst spielerische Wettbewerb nicht zum bitteren Ernst wird.