Diese Dame namens Emmanuelle (Sylvia Kristel) bereitet sich gerade auf den Abflug nach Bangkok vor. Im Flugzeug wird sie Sex haben. Nicht auf der Toilette.Bild: www.imago-images.de
Rekordquoten, Verbote, eine schillernde Romanautorin, viel Erotik und Exotik: An «Emmanuelle» ist alles extraordinär.
27.10.2024, 16:0127.10.2024, 16:58
Ein offenherziges Paar
Die Geschichte eines erotischen Welterfolgs beginnt 1948 in der Schweiz. Im waadtländischen Rolle. Dort begegnet die 16-jährige thailändische Aristokratin Marayat Bibidh, die im Prestige-Internat Le Rosey zur Schule geht, dem 30-jährigen französischen Diplomaten Louis-Jacques Rollet-Andriane. Die beiden verlieben sich während eines Balls tumultuös ineinander, es muss wie eine Szene aus «Bridgerton» gewesen sein. Doch erst 1956 ist ein gemeinsames Leben möglich, da ergattert Louis-Jacques einen Posten in Bangkok.
Die beiden heiraten. Und frönen der hemmungslosen Libertinage. Freie Liebe, Polygamie, Bisexualität, nur ja keine Monogamie. Sie werden zum schillernden Mittelpunkt eines diplomatischen Expat-Zirkels. Und sie machen Bangkok innerhalb weniger Jahre zur Lieblingsdestination wohlhabender europäischer Swinger.
Ein sehr französischer Roman
1559 erscheint in einem französischen Verlag der Roman «Emmanuelle»: Eine 19-jährige Pariserin folgt ihrem Mann, einem Diplomaten, nach Bangkok. Dummerweise hat er nur wenig Zeit für sie, weshalb sie sich mit seinem Einverständnis mit vielen anderen asiatischen und europäischen Damen und Herren verlustiert. Alles andere wäre schade, schliesslich ist sie ein «erotisches Genie». Sie absolviert so ihre Schule der Lust und wird zu einer sexuell selbstbewussten und selbstverständlich auch frei verfügbaren Frau. Ebenfalls im Roman: Eine viel zu lange, viel zu theoretische Unterhaltung über den philosophischen Sinn der Erotik. Sehr französisch eben.
Zuerst erscheint der Roman ohne Angabe eines Autors oder einer Autorin. Schliesslich wird die Verfasserin enthüllt: Sie nennt sich Emmanuelle Arsan, angeblich ein Pseudonym von Marayat Rollet-Andriane.
Utraglamouröse Autorin: Marayat Rollet-Andriane alias Emmanuelle Arsan. Bild: www.imago-images.de
Angeblich handelt es sich bei dem Roman, der in Frankreich sofort verboten wird, sich unter dem Ladentisch jedoch tausendfach verkauft, um Marayats Memoiren. Doch nach ihrem Tod 2005 kommen Zweifel auf: War der wahre Autor nicht vielleicht ihr Ehemann gewesen, den Zeitgenossen als Mann beschrieben, der keine Sekunde lang an etwas anderes als an Sex denken konnte? Louis-Jacques, der seine Frau um vier Jahre überlebt, äussert sich nicht dazu.
Bertoluccis traumatischer Tango
Zum Film «Emmanuelle», den bis heute über 350 Millionen Menschen gesehen haben, kommt es 1973. Da reist ein junges Team mit bescheidener Ausrüstung nach Thailand, um den Roman zu verfilmen. Grund dafür ist ein Stück Butter. Beziehungsweise die Vergewaltigungsszene in «Der letzte Tango in Paris» von Bernardo Bertolucci.
Szene mit Marlon Brando und Maria Schneider aus «Der letzte Tango in Paris».Bild: www.imago-images.de
Amerika hatte 1972 den ersten pornografischen Grosserfolg mit «Deep Throat»: Eine Frau hat ihren G-Punkt im Hals sitzen und kommt nur zum Orgasmus, wenn sie Männer oral befriedigt. Im selben Jahr erscheint in Europa Bertoluccis «Tango» mit Superstar Marlon Brando, 48, und der 19-jährigen Maria Schneider.
Beim Dreh beschliesst Brando, dass eine anale Vergewaltigungsszene, die gar nicht im Drehbuch steht, für die Wucht des Films absolut notwendig sei, und dass seine Figur dafür ein Stück Butter als Gleitmittel einsetzen müsse. Bertolucci ist einverstanden, die beiden Männer weihen Maria Schneider nicht in ihren Plan ein, die zwar gespielte, aber ohne ihr Einverständnis, ja ohne ihr Wissen umgesetzte Szene wird für sie zum lebenslangen Trauma.
In Paris ist der Film ein Publikumshit. Und die französische Filmszene ist sich einig, dass es sich bei der Vergewaltigungsszene um einen Geniestreich handelt, genau so authentisch und roh muss man das zeigen und genau so muss man sich ins Gespräch bringen.
Die Hure als Heilige
Der Produzent Yves Rousset-Rouard will den Erfolg von Bertolucci mit einem eigenen Erotikfilm übertreffen. Er sichert sich die Rechte an «Emmanuelle» und dem Nachfolgeroman «Emmanuelle – L’anti-vièrge». Ihm schwebt eine gehobene Ästhetik vor, es soll wie das Männermagazin «Lui» sein, das wiederum wie der «Playboy» ist, nur in bewegten Bildern natürlich. Er engagiert den jungen «Vogue»-Fotografen Just Jaeckin als Regisseur und einen Drehbuchautor von Truffaut. Die Starkraft von Marlon Brando will er mit dem 66-jährigen Franzosen Alain Cuny ersetzen, ein Mann, den auch Intellektuelle gut finden.
Sylvia Kristel 1973, kurz bevor sie sich zum «Emmanuelle»-Casting verirrt.Bild: www.imago-images.de
Doch der wahre Star ist die Niederländerin Sylvia Kristel. Sie ist 21, eine gescheiterte Sekretärin, Mannequin und Werbegesicht, sie irrt sich in der Tür, eigentlich will sie zum Dreh für eine Waschmittel-Werbung, doch plötzlich steht sie im «Emmanuelle»-Casting. «Sie war ein Wunder an Reinheit, Unbedarftheit und Poesie», wird Just Jaeckin im Dokumentarfilm «‹Emmanuelle› – Königin des Softpornos» auf Arte zitiert. Man habe sie beim Dreh den dreckigsten Fantasien aussetzen können, sie sei immer «rein» geblieben. Die Hure als Heilige, es ist die absolute Überfantasie.
Die Sehnsucht nach Freiheit und Sinnlichkeit
Und so reist also ein Team aus lauter Leuten zwischen 20 und 35 Jahren plus Cuny Ende Dezember 1973 nach Thailand, sie sind sich sicher, totalen Schrott zu produzieren. Jaeckin gibt sich alle Mühe, etwas «Ästhetisches» zu kreieren, alles wirkt immer wie durch Schleier, Vorhänge und Nebel gedreht, «Emmanuelle» definiert quasi das «soft» in Softporno.
Erotik reimt sich auf … Exotik! Szene aus «Emmanuelle».Bild: www.imago-images.de
Der Produzent ist unzufrieden, er hat sich mehr Bertolucci vorgestellt. Und er will unbedingt eine Szene, über die alle reden sollen: Er erfindet sie gleich selbst – eine thailändische Darstellerin soll eine Zigarette mit ihrer Vagina rauchen. Jaeckin weigert sich, dies zu drehen, ein Mitarbeiter übernimmt, die Szene ist zum Lachen grotesk, aber sie ist drin.
«Emmanuelle» trifft den damaligen Zeitgeist perfekt: Das grosse Publikum ist noch lange nicht so befreit, wie die Parolen der 68er-Bewegung behauptet haben. «Make Love not War» und Demonstrationen für das Recht auf Abtreibung sind erst ein Anfang. Der Grossteil der Französinnen gibt an, noch nie einen Orgasmus gehabt zu haben. Frankreich befindet sich noch immer in der Nachkriegsstarre der Biederkeit unter Charles de Gaulle und seinem Nachfolger Georges Pompidou. Aber die Sehnsucht nach Freiheit und Sinnlichkeit, die ist da.
Am 26. Juni 1974 hat der Film Premiere in Paris, mehrere Monate war er unter Verschluss, dann, mit der Machtübergabe von Pompidou an Valéry Giscard d’Estaing im Mai 1974, wird er freigegeben. Und alle wollen die sanfte Sinnlichkeit von «Emmanuelle» sehen, besonders beliebt ist sie bei Ehepaaren. In einigen Ländern bleibt der Film verboten, auch bei uns, und aus Spanien fahren Reisebusse über die Grenze nach Frankreich zur nächst gelegenen «Emmanuelle»-Vorstellung. Die Zuschauerzahlen von «Der letzte Tango in Paris» sind schnell mickrige Vergangenheit.
Sylvia Kristel (hier 1979) wird als Emmanuelle zum Weltstar. In Japan wird sie wie eine Göttin verehrt.Bild: www.imago-images.de
Sylvia Kristels Verhängnis
Das Bild der Sexualität, was vermittelt wird, ist zuckrig, nett, hübsch, fröhlich, sauber. Oder eben «rein». Obwohl Emmanuelle in einer Opium-Höhle vergewaltig wird, obwohl sie von einem alten Lebemann (Cluny) vernascht wird, obwohl sie zum Tauschobjekt zwischen Männern wird. Auch wenn «Emmanuelle» das glückliche sexuelle Erwachen einer Frau zeigt, braucht es doch sehr viel Fantasie, um den Film als feministisches Manifest zu verstehen. Er ist es einfach nicht.
Sylvia Kristel, die sich vor dem Dreh der Sexszenen jeweils betrunken hat, sagt bald, dass sie nicht auf Emmanuelle reduziert werden will: «Ich will mich nicht auf ein Genre beschränken, ich glaube, Clint Eastwood möchte auch nicht nur Western machen.»
Leider hat sie einen Vertrag für drei «Emmanuelle»-Filme unterschrieben. Der dritte heisst «Goodbye Emmanuelle» – endlich findet die Protagonistin doch in den Schoss der Zweisamkeit, fertig verrücktes Leben.
Nicht nur ein Film, auch ein Stuhl wird Kult.Bild: www.imago-images.de
Ein Kino an der Champs-Élysées zeigt zwölf Jahre lang keinen anderen Film als «Emmanuelle», er wird für Touristen so sehr zum Muss wie Westend-Musicals in London. Und Abertausende kaufen sich den Rattan-Stuhl, in dem sich Kristel auf dem Filmplakat räkelt.
Die List der Schweizer Piraten
In der Schweiz soll der Film (der inzwischen auf VHS erhältlich ist und in jedem Coop samt Rattan-Stuhl-Cover im Regal mit den Video-Kassetten ausliegt) in der Silvesternacht 1984/85 von der SRG in der Romandie ausgestrahlt werden. 48 Nationalräte und die schweizerische Bischofskonferenz protestieren dagegen, das gottlose Machwerk sei in der Weihnachtszeit undenkbar, es wird mit Gebührenboykott gedroht. Die SRG knickt ein, doch der Zürcher Piratensender Züri-Welle übernimmt und speist «Emmanuelle» als Neujahrsgruss um zwei Uhr nachts in das Netz des österreichischen Fernsehens ein, das seinen Sendebetrieb jeweils um 1.30 Uhr einstellt.
Sylvia Kristel wird als Schauspielerin und im Leben nicht mehr glücklich. Was auch immer sie versucht, um «Emmanuelle» zu entkommen – es floppt. Sie wird alkohol- und kokainsüchtig, mit 60 stirbt die Kettenraucherin an den Folgen von Lungenkrebs.
Bis ins letzte Detail: 2020 ehrt Daniel Craig «Emmanuelle» für «Saturday Night Life».Bild: SNL / NBC
Die Romane und Filme um die freizügige Diplomatengattin nehmen dagegen noch lange kein Ende, auch wenn sie nie mehr an den grossen Erfolg von 1974 anknüpfen können: Es gibt Emmanuelle in Rom, im Gefängnis, bei den Kannibalen sie ist die Vorlage zu über einhundert Filmen, doch nur einer hat es bis heute ins popkulturelle Gedächtnis geschafft.
«Emmanuelle» heute
Aktuell läuft die neuste «Emmanuelle»-Verfilmung im Kino und kaum jemand mag sie sehen (in meiner Vorstellung sass ausser mir noch ein einziger alter Mann im Saal, der in den 70ern gewiss die originale «Emmanuelle»-Welle miterlebt hatte). Regisseurin Audrey Diwan hatte zuvor sehr eindringlich den Abtreibungsroman «L’ Événement» von Literturnobelpreisträgerin Annie Ernaux verfilmt. Jetzt sagte sie sich: Wenn ich einen Film über Schmerz machen kann, wieso nicht auch einen über Lust?
Trailer «Emmanuelle» 2024
Gesagt, getan: Ihre Emmanuelle (Noémie Merlant) ist 35, Single und Luxushotel-Testerin. Ihre Destination heisst Hongkong, wo sie ein Hotel quasi auf seine sinnliche Wirkung untersuchen muss. Also auf Textilien, Texturen, Duft, Geschmäcker, Musik. Aber natürlich testet sie auch das erotische Entgegenkommen und die entsprechenden Fähigkeiten des Personals. Und dann ist da noch ein mysteriöser Gast (Will Sharp), dessen Badewasser sie schlürft und der sie in eine illegale Spielhölle und zu einem Boxkampf mitnimmt. Und nachdem Emmanuelle hundert Minuten lang nicht gerade wenig Sex hatte, hat sie auch ENDLICH ihren ersten richtigen Orgasmus! 2024, nicht 1974. Und ENDE. Es ist alles sehr ästhetisch. Und recht albern. Zum 50. hat «Emmanuelle» nun wirklich ein prickelnderes Remake verdient.
Ach ja, die neue Emmanuelle beschliesst übrigens, nach ihrer sexuellen Befreiung ihren Job aufzugeben. Sie braucht jetzt einfach all ihre Zeit für die Lust. Und wer weiss, vielleicht lernt sie dabei auch noch ein paar Kunststücke. Etwa, wie man mit der Vagina eine Zigarette raucht.
«Emmanuelle» (1974) gibt es auf Apple TV+ zu sehen, «Emmanuelle» (2024) läuft im Kino und irgendwann auf Netflix.