«Da hat niemand Ahnung vom Fussball»

In seiner langen Profikarriere machte Ailton auch bei GC Halt.Bild: KEYSTONE

Interview

Bundesliga-Legende Ailton spricht im Interview über seine ungewöhnliche Karriere, über Glück und Schicksal – und die Geldgier von Fussballervätern.

04.11.2024, 18:1804.11.2024, 18:19

david digili / t-online

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Double-Sieger und Torschützenkönig 2004, 106 Bundesligatore – Ailton Gonçalves da Silva, kurz: Ailton, war in seiner Hochzeit bei Werder Bremen (1998 bis 2004) massgeblich mitverantwortlich für die Erfolgsphase der Norddeutschen. Mit humorvollen Interviewauftritten in gebrochenem Deutsch wurde der Brasilianer dazu vereinsübergreifend und auch in der Schweiz (eine Saison bei GC) zum Publikumsliebling.

Nach weiteren Stationen in der Bundesliga beim FC Schalke 04 (2004/05), dem Hamburger SV (2006) und im Ausland liess der aufgrund seiner gedrungenen Statur zum «Kugelblitz» verniedlichte Stürmer seine Karriere in Deutschland bei unterklassigen Klubs ausklingen. Nun hat er seinen Weg aufgeschrieben: Im Buch «Mein Fussballmärchen», das seit 2. November erhältlich ist, erzählt der Wahl-Bremer seine ereignisreiche Lebensgeschichte.

t-online traf den heute 51-Jährigen in Hamburg zum Interview. Beim Gesprächstermin ist Ailton bestens gelaunt, erst am Vortag ist er aus Brasilien zurückgekehrt. Er habe Familienangehörige besucht, ein Fussballspiel organisiert und Körbe mit Lebensmitteln verteilt. «In Brasilien gibt es im Moment sehr viele Menschen, die es schwer haben», sagt er merklich bewegt. Dann geht es ins Gespräch. Ailton erinnert sich an einen Kulturschock in Bremen, übt scharfe Kritik an einem weltbekannten Landsmann – und beklagt Fehlentwicklungen im modernen Fussball.

Ailton, hatten Sie Glück?
Ailton: Ich weiss gar nicht, ob ich selbst in meinem Alter richtig verstanden habe, was Glück heisst.

Sie haben es aus einem kleinen Ort im Nordosten Brasiliens ohne fliessend Wasser und ohne «klassische» Fussballausbildung bis zum deutschen Meister und Bundesliga-Torschützenkönig geschafft. Ist das kein Glück?
Natürlich gibt es einige Momente in meiner Karriere, die man heute als «Glück» bezeichnen könnte. Allein schon, dass ich entdeckt wurde. In Brasilien spielen von 1000 Menschen mindestens 800 Fussball. Wenn von denen alle wirklich gut wären, gäbe es gar nicht genug Profiklubs, die alle aufnehmen könnten (lacht).

Wie ist man auf Sie aufmerksam geworden?
Mich hat ein Scout in einer Partie entdeckt, die wir 0:8 verloren haben. Wer kommt da denn auf die Idee, einen Spieler der Mannschaft zu holen, die gerade acht Dinger kassiert hat? Zwei Wochen später bekam ich dann aber tatsächlich eine Einladung nach São Paulo. Ist das Glück – oder nicht doch eher etwas anderes?

Etwas anderes?
Als Katholik glaube ich fest ans Schicksal, das für jeden vorbestimmt ist – und meines war es eben, Fussball zu spielen. Ich war nie gut in der Schule, habe viele Jahre sogar ohne Fussballschuhe gespielt, kam dazu aus einem kleinen Ort in die grosse Stadt. Und trotz dieser widrigen Umstände hat es geklappt. Obwohl ich als Teenager fast schon aufgehört hätte.

Wie bitte?
Ich war 14, 15 Jahre alt und hatte mich schwerer verletzt, bei den medizinischen Gegebenheiten damals in Brasilien besonders nachteilig. Ein Bruch des Fussknöchels. Ein Arzt legte mir nahe, nicht mehr Fussball zu spielen. Meine Mutter war fast schon traumatisiert von meiner Verletzung und wollte unbedingt, dass ich einen «vernünftigen» Job annehme. Aber ich kam vom Fussball einfach nicht weg. Und das hat meine Mutter dann auch bemerkt. Bei einer Gelegenheit dann drückte sie mich ganz fest, da wusste ich endgültig, dass ich ihren Segen hatte.

Ihr Buch hat den Titel «Mein Fussballmärchen». Wäre eine Karriere wie Ihre heute noch möglich?
Nein. Ich kann es mir nicht vorstellen – nicht nur wegen meines ungewöhnlichen Wegs, der sich im durchprofessionalisierten Fussball so heute nicht mehr bieten würde. Es war insgesamt eine ganz andere Zeit. Ich erinnere mich zwar gerne daran zurück, aber: Es war auch schwer. Wirklich schwer.

Was genau?
Als ich 1998 nach Deutschland kam, war natürlich die Sprache für mich gänzlich neu, ebenso die Mentalität der Menschen hier. Es fing aber schon mit Kleinigkeiten abseits davon an. Ein Beispiel: Internet? Hat 1998, 1999, 2000 noch kaum jemand so richtig benutzt. Die vielen unterschiedlichen Kommunikationswege von heute hatten wir damals noch nicht. Ich sage gern: Von den Telefonrechnungen, die ich damals verursacht habe, könnte man heute ein Haus kaufen (lacht). Dann wurde ich in den ersten Monaten bei Werder Bremen auch noch kaum eingesetzt.

«Das war für mich das Signal, Schritt für Schritt immer mehr von meinem Charakter zu zeigen, mich langsam zu öffnen. Spässe in der Kabine, brasilianische Musik, fünfminütige Verspätungen.»

Bei Ihrem Bundesligadebüt gegen den SC Freiburg haben Sie direkt getroffen. Danach aber kam in den folgenden elf Partien nur ein einziger weiterer Einsatz hinzu.
Das wäre 2024 doch unvorstellbar. Kein Brasilianer würde heute noch so viel Geduld aufbringen (lacht). Ein Brasilianer kommt heute zum Verein und will morgen sofort spielen. Ich frage mich noch heute manchmal, wieso ich damals bei Werder geblieben bin und nicht zurück nach Brasilien oder Mexiko wechseln wollte.

Und? Warum sind Sie geblieben?
Ich weiss es wirklich nicht. Ich hatte dabei immer nur einen Gedanken, der mich umtrieb: Wie kann ich endlich das Eis brechen zwischen den Menschen hier und mir?

Keine leichte Aufgabe …
Als ich dann regelmässig spielte und anfing, meine Tore zu schiessen, fiel auch Fans und Experten im Land mein Potenzial auf. Das war für mich das Signal, Schritt für Schritt immer mehr von meinem Charakter zu zeigen, mich langsam zu öffnen. Spässe in der Kabine, brasilianische Musik, fünfminütige Verspätungen (lacht). Man hat vielleicht auch einen Moment gebraucht, um mich zu verstehen. Aber das war vor 25 Jahren. Der Fussball hat sich meiner Meinung nach grundlegend verändert – und nicht zum Positiven.

Bremen's Brazilian player Ailton holds the cup after winning the German Soccer Cup Final between Werder Bremen and second divisioner Alemannia Aachen in Berlin, Saturday May 29, 2004. (KEYSTONE/A ...

Bei Werder wurde Ailton zum Publikumsliebling.Bild: AP

Inwiefern?
Spieler müssen heutzutage wie Roboter funktionieren, die einzig die Anweisungen ihres Trainers befolgen. Wenn ich da an meine Zeit zurückdenke – da gab es gefühlt viel mehr Persönlichkeiten, die auf dem Platz auch selbst mitgedacht und ihre eigenen Ideen umgesetzt haben. Ihnen wurden mehr Freiheiten gestattet, ihnen wurde mehr Kreativität erlaubt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich sind Disziplin und Taktik im Fussball auch wichtig. Aber es muss auch Platz sein für das Spontane, für die Eingebung im Spiel. Ohne diese Möglichkeiten verliert ein Spieler doch auch das Vertrauen in sich selbst.

Wie war das bei Ihnen?
Es wird Sie nicht überraschen: Mit Thomas Schaaf bin ich am Anfang hin und wieder aneinandergeraten, wenn er mich ermahnte, auch in der Verteidigung mitzuhelfen und bis an die Mittellinie zurückzukommen. Das habe ich nicht gemacht, sondern vorne auf Chancen gelauert – und sehr oft mit Erfolg. Das hätte nicht funktioniert, wenn ich so weit hinten geblieben wäre. Er hat mich dann analysiert und ist zum Schluss gekommen: Ailton ist am besten, wenn ich ihn machen lasse. Einen Unterschied gab es aber doch.

Ja?
Wir haben zumindest miteinander darüber gesprochen. Heute scheint mir vieles unpersönlicher.

Unpersönlicher?
Die neuen technischen und taktischen Möglichkeiten und Trainingsmethoden stehen natürlich ausser Frage – wenn sie denn richtig und sinnvoll eingesetzt werden. Aber: Thomas Schaaf hatte damals zwei Mitarbeiter: Co-Trainer Karl-Heinz Kamp und Torwarttrainer Dieter Burdenski. Also waren das insgesamt drei Leute, die sich um über 20 Spieler kümmerten. Mehr nicht. Heute sind sechs, sieben Personen in einem Trainerstab. Der Chefcoach lässt seine Assistenten für sich arbeiten und auch die Kommunikation übernehmen. Was soll das?

Haben Sie denn einen Lösungsansatz?
Es wird sich erst in dem Moment etwas ändern, in dem die Mehrzahl der Trainer ihren Spielern wieder mehr Freiheiten lässt und ihnen eigenständige Entscheidungen auf dem Spielfeld erlaubt. Es ist eine Vertrauenssache. Denn man darf eines nicht vergessen: Gerade der Mut zum Risiko macht doch den Reiz beim Fussball aus. Der Mut zum Risiko wird belohnt – ohne ihn wird auch der Erfolg ausbleiben.

Wie erklären Sie diesen aus Ihrer Sicht fehlenden Wagemut?
Viele Trainer heute haben einfach Angst, sie setzen zuerst auf Defensive, auf ein sicheres, starres System.

«Heute ist die erste Motivation nicht mehr die Liebe zum Fussball, sondern das Geld.»

Angst, weil im heutigen Fussballgeschäft mehr auf dem Spiel steht?
Geld? Gut, das war früher auch schon Teil des Spiels, in geringerem Masse zwar. Aber ja, heute natürlich umso mehr. Die Summen, um die es heute geht, sind eigentlich unvorstellbar – und das viele Geld kann den Fussball eben auch lähmen. Eine persönliche Anekdote …

Bitte.
Ich habe meinen ersten Profivertrag mit 20 Jahren unterschrieben (1993 beim Ypiranga FC, Anm. d. Red.) – für das damalige Mindestgehalt in Brasilien. Es mag in unserer aktuellen Zeit seltsam klingen, aber ich habe in erster Linie aus Lust am Fussball gespielt. Heute? Da würde auch in Brasilien niemand mehr für so ein Mindestgehalt spielen – die erste Motivation ist nicht mehr die Liebe zum Sport, sondern das Geld. Und wer ist schuld daran? Eltern, die durch ihre Kinder zu Reichtum kommen wollen.

Haben Sie solche Fälle erlebt?
Viele. Sie können es sich nicht vorstellen: Wenn ich mal mit 15-, 16-Jährigen spreche – die wollen spielen, weil sie Freude daran haben. Wenn ich dann aber mit deren Vätern spreche, ist sehr oft die erste Frage: «Wie viel kann mein Sohn denn verdienen?» Dazu kommen dann auch noch Berater, die sich einmischen und den Jungs sagen: «Verein X möchte Dich verpflichten? Geh lieber zu Verein Y, dort wird mehr gezahlt.» Dabei lassen sie völlig ausser Acht, was für das individuelle Talent eigentlich die bessere Karriereentscheidung wäre.

Und es gibt niemanden, der da widerspricht?
Das ist es ja. Erst in der letzten Saison gab es so einen Fall bei Werder: Ein Talent aus Portugal sollte kommen, man war sich meines Wissens nach bereits einig. Der Junge flog wieder nach Hause – und eine Woche später sagte die Familie Werder ab, er wechselte nach Italien. Auf meine Nachfrage hin wollten sie es nicht zugeben, aber ich wusste: Es ging nur ums Geld.

«Neymar hat ein Jahr gefehlt und in der Zwischenzeit in Brasilien nur Partys gefeiert.»

Wie ging es weiter?
In Italien bekam er natürlich keine Spielzeit und ist jetzt wieder zuhause in Portugal. Für die Karriere ist das fatal. Jugendliche werden schon früh durch die hohen Gehälter angefixt wie mit Drogen. Irgendwann wollen sie auch selbst nur noch mehr, mehr, mehr. Es ist doch inakzeptabel, dass Teenager mit 17, 18 Jahren schon Millionengehälter verdienen – hallo? So ein Junge hat doch schnell keine Lust mehr. Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang übrigens etwas fragen.

Gerne.
Warum spielt Cristiano Ronaldo noch immer auf Top-Niveau?

Nun, ob man ihn als Typen mag oder nicht, so muss man doch seine Erfolge anerkennen und sagen, dass er seinen Sport stets höchst professionell betrieben hat.
Danke schön, genau das ist es: Er möchte auch mit 39 Jahren noch die Nummer eins sein, gewinnen, gewinnen, gewinnen. Er hat Fussball im Herzen.

Dafür spielt er jetzt aber in der sportlichen Bedeutungslosigkeit in Saudi-Arabien und lässt sich dafür mit 100 Millionen Euro im Jahr entschädigen …
Dass niemand so viel Geld verdienen sollte, ist klar. Aber: Ronaldo bleibt weiter Vollprofi. Er könnte in seinem Alter und mit seinem Status auch anders an die Sache in Saudi-Arabien rangehen und sich mit kleinen Wehwehchen immer wieder mal Auszeiten nehmen – sein Gehalt bekommt er schliesslich trotzdem. Stattdessen ist er stets topfit, trifft weiter, will gewinnen, auch dort. Diese Leidenschaft hat ihn erst zu dem gemacht, was er heute ist. Und jetzt schauen Sie sich dagegen Neymar an …

… der gerade erst sein Comeback für Al-Hilal gefeiert hat …
Der hat ein Jahr gefehlt und in der Zwischenzeit in Brasilien nur Partys gefeiert. Das ist dann am Ende eben doch der Unterschied von einem Neymar zu einem Ronaldo oder einem Lionel Messi.

Neymar ist Rekordtorschütze der brasilianischen Nationalmannschaft. Für Sie hat es nie mit einer Nominierung geklappt, damals war die Konkurrenz mit Ronaldo, Rivaldo, Amoroso und anderen unüberwindbar. Ist das etwas, was Sie im Rückblick bedauern?
Ich würde es anders sagen: Zu meiner Werder-Zeit hat in Brasilien niemand nach Bremen geschaut. Sechs Jahre habe ich dort gespielt, bin Meister, Pokalsieger, Torschützenkönig geworden. Trotzdem: nichts. Nach mir kamen aber: Naldo, Gustavo Nery, Wesley – die wurden im Werder-Trikot alle zu Nationalspielern.

Fühlen Sie sich als Wegbereiter?
In gewisser Weise, ja. Denn durch die Erfolge zu meiner Zeit war Werder ständig in der Champions League – und wurde damit auch in Südamerika bekannter. So verbesserte sich auch das Standing des Klubs bei Transfers aus Brasilien. Und die Spieler wussten, dass sie ein Wechsel nach Bremen weiterbringen kann.

Werder hat sich nach schwierigen Jahren in der Bundesliga stabilisiert – was man von Ihren anderen beiden Ex-Klubs Schalke und HSV nicht behaupten kann.
Ja, leider – das tut wirklich weh. Dass zwei der grössten deutschen Fussballklubs in der zweiten Bundesliga feststecken, ist inakzeptabel. Die Stadien, die Fans – sowohl auf Schalke als auch in Hamburg ist das Wahnsinn. Aber leider wurde bei beiden Vereinen über viele Jahre nicht gut gearbeitet. Und gerade auf Schalke ist das offenbar immer noch der Fall.

Sie sprechen die aktuellen Turbulenzen an?
Wie willst du Konstanz hineinbekommen, wenn du alle paar Monate den Trainer wechselst? Auf mich macht es den Eindruck, als gäbe es dort aktuell niemanden mit wirklichem Sachverstand. Da hat niemand Ahnung vom Fussball.

Auch der Schalker Kader scheint aktuell nicht in der Spitze konkurrenzfähig. Manchmal hängt Erfolg ja auch nur von dem einen Transfer-Glücksgriff, von einem Spieler ab. Der Bremer Erfolg damals war auch Ihr Verdienst. Gibt es einen aktuellen Spieler, der Ihnen nahekommt? Einen Ailton 2024?
Einen wie mich? In Deutschland? Nein – und das sage ich keinesfalls aus Eitelkeit. Natürlich gibt es andere ganz fantastische Spieler in der Bundesliga – aber einen wie mich hat keine Mannschaft. Ich glaube: Einen wie mich wird es in der Bundesliga nicht mehr geben. Kann es nicht mehr geben. Aus den vorhin genannten Gründen. Und vielleicht ist das ja auch wieder Schicksal.