Der Mord am deutschen Studenten und Spitzel Ludwig Lessing in Zürich 1835 enthüllte ein Netz von Spionage und politischem Aktivismus unter deutschen Exilanten in der Schweiz. Sein Tod verstärkte den internationalen Druck auf die Schweiz, hart gegen revolutionäre Flüchtlinge vorzugehen.
Patrik Süess / Schweizerisches Nationalmuseum
Am 3. November 1835 feierte Ludwig Lessing, aus Freienwalde bei Berlin stammend und seit dem Wintersemester 1834/35 Student der Rechtswissenschaft an der Universität Zürich, seinen 23. Geburtstag. Freunde schenkten ihm einen Strohkranz und eine Tabakpfeife aus Ton. Am Vormittag besuchte er Vorlesungen, nachmittags traf er sich im Café Littéraire mit seinem guten Freund Carl Cratz und einem Bekannten namens Karl August Baron von Eyb.
Ihnen berichtete Lessing, dass er am Abend nicht wie sonst ins «Grüne Häusli», ein von deutschen Studenten häufig frequentiertes Lokal, komme, da er «etwas vorhabe». Auch seiner Vermieterin Frau Locher-v. Muralt sagte er, er gehe des Abends «in eine Gesellschaft, in die er zu kommen versprochen» habe. Auf Frau Locher-v. Muralt wirkte er dabei ausgesprochen gut gelaunt. Nach einem kurzen Aufenthalt im Lesezimmer des Museums brach Lessing dann um halb sieben Uhr abends auf und ging der Sihl entlang in Richtung Enge. Hier verlor sich seine Spur.
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Am nächsten Morgen fand der Milchträger Heinrich Wydler Lessings Leiche am Sihlufer zwischen Enge und Zürich, auf dem Bauch liegend und mit seinem Mantel bedeckt. Mit der linken Hand umklammerte er noch ein Taschenmesser, mit dem er sich offenbar vergeblich zu verteidigen versucht hatte. Die Obduktion ergab: Ludwig Lessing war mit 49 Messerstichen regelrecht hingemetzelt worden.
Ein Exil für revolutionäre Ideen?
Die Zürcher Polizeibehörden gingen schnell von einem politisch motivierten Mord aus, denn Lessing lebte und wirkte im Umkreis der politisch aktiven deutschen Studenten und Flüchtlinge in der Stadt. Diese bürgerlich-republikanischen Aktivisten, in ihrer Heimat als «Demagogen» verfolgt, lehnten das nachnapoleonische restaurativ-monarchische System ab, forderten liberale Reformen und die nationale Einheit Deutschlands.
Die Schweiz war zu dieser Zeit ein beliebter Zufluchtsort für politisch Verfolgte aus Deutschland und Österreich; die regenerierten Kantone boten ihnen ein relativ sicheres und freies Umfeld zur politischen Organisation und Agitation, zumal sowohl die liberalen Regierungen wie auch grosse Teile der Bevölkerung den demokratisch-republikanischen Anliegen der Flüchtlinge Sympathien entgegenbrachten.
Unter Beteiligung des italienischen Berufsrevolutionärs Giuseppe Mazzini wurde in Bern die politische Geheimorganisation Junges Deutschland gegründet, deren Ziel unter der Parole «Freiheit, Gleichheit, Humanität» ein republikanischer Umsturz in der Heimat war. Treffpunkt des Jungen Deutschland in Zürich war das Café Littéraire, wo, wie gesehen, auch der Student Lessing verkehrte.
Überhaupt war die revolutionäre Bewegung bei der deutschen akademischen Jugend besonders beliebt. Diese Flüchtlinge, häufig Mitglieder der verbotenen Burschenschaften, schrieben sich mit Vorliebe in den neu gegründeten Schweizer Hochschulen in Zürich und Bern ein:
«Die neue Universität Zürich geriet nicht zuletzt, weil sie anlässlich ihrer Gründung liberal gesinnte Professoren, mitunter auch in Deutschland politisch verfolgte Akademiker (…) angestellt hatte, im restaurativen Ausland in den Ruf einer radikalen Hochburg, was wiederum auf die Flüchtlinge Anziehung ausübte.»
aus Jodocus Donatus Hubertus Temme: Der Studentenmord in Zürich. Criminalgeschichte, 1872.
Preussen verbot denn auch im Dezember 1834 seinen Untertanen ein Studium an den Universitäten Bern und Zürich.
Auch Ludwig Lessing war einer der Studenten, die sich von den revolutionären Idealen begeistern liessen, in Berlin spielte eine führende Rolle beim Aufbau einer geheimen Burschenschaft. Doch dann wurde er verhaftet – und in der Haft wurde er kooperativ: Lessing war einverstanden, gegenüber den Behörden auszusagen, sofern er amnestiert würde und man ihn in Ruhe weiterstudieren liesse.
Und er war sogar bereit, die Behörden auch weiterhin mit Informationen über die revolutionäre Studentenszene zu versorgen; kurz: Hier begann Ludwig Lessings Tätigkeit als Spitzel für die preussische Polizei bzw. für die Frankfurter «Bundes-Central-Behörde», die für den ganzen Deutschen Bund Informationen über politische Umtriebe im In- und Ausland sammelte. Dazu baute die Behörde ein Spionage-Netzwerk auf, das auch in der Schweiz operierte.
Lessing als Spion in der Schweiz
In Bern, wo er 1834 Medizin zu studieren begann, sollte Lessing gemäss seinen Auftraggebern gezielt politische Bewegungen unterwandern. Sofort betätigte er sich als Agent provocateur: Er stachelte die deutschen Handwerker in Bern zum Kampf gegen das «Tyrannenjoch» der deutschen Aristokratie auf – und berichtete gleichzeitig nach Berlin über die Gefährlichkeit der Revolutionäre.
Dabei war Lessing kein guter Spion: Er wusste wenig, beobachtete nicht strukturiert und systematisch, dafür war er ein Wichtigtuer, der angeblich in die geheimsten Geheimnisse der grossen Politik eingeweiht war. So wurde er denn auch bald von seinen Landsleuten als Spion verdächtigt. Als der Berner Volksfreund diesen Verdacht offen aussprach, wich Lessing nach Zürich aus. Dort spielte er als Mitglied des Jungen Deutschland seine Rolle weiter.
Was wussten seine Freunde in Zürich, alle ebenfalls Mitglieder dieses Geheimbundes, von Lessings Doppelleben als Spion? Wussten sie, dass er auch über sie persönlich nach Deutschland berichtete? Der Zürcher Verhörrichter Hans Konrad von Meiss stiess bei ihnen auf eine Mauer des Schweigens. Baron von Eyb hatte Lessing gut gekannt, hatte auch die gleiche Loge wie er im Theater, wollte aber nichts über eine Organisation namens Junges Deutschland wissen.
Tatsächlich hatte Eyb eine hohe Machtstellung im Leben der republikanischen Clubs in den Städten des Schweizer Mittellandes inne, beim Jungen Deutschland fungierte er als Kassier. Julius Thankmar Alban gab an, ein guter Freund von Lessing gewesen zu sein, von Politik aber nichts zu wissen – dabei war er seit Juli 1835 Vorsitzender des Jungen Deutschland in Zürich und mit Lessing noch im August ins Tessin zu einem konspirativen Treffen gereist.
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Friedrich Gustav Ehrhardt hatte Lessing des Öfteren zu Hause besucht und im August 1835 sogar ein Duell mit ihm ausgefochten, aber politische Vereine wollte er keine kennen. In Wahrheit gehörte Ehrhardt zum «fanatischen Kern der radikalen Flüchtlingsbewegung» – so zitiert die zeitgenössische Darstellung des Falls «Der Studentenmord in Zürich. Criminalgeschichte». Zusammen mit Lessings Freund Carl Cratz gab er die frühkommunistische Zeitschrift «Das Nordlicht» heraus.
Über Cratz und Ehrhardt sagte der Schustergeselle Friedrich Herrscher sogar aus, dass sie ihn vor dem «Spion» Lessing gewarnt hätten, und dass er, Herrscher, wiederum Lessing zu warnen versucht habe, da man unter den Studenten und Handwerkern seinen Tod plane.
Als der preussische Gesandte in der Schweiz, Theodor von Rochow, behauptete, aus sicherer Quelle zu wissen, dass Alban und Cratz Lessing unter dem Vorwand, ihn mit einer Frau bekannt machen zu wollen, in die Enge gelockt und getötet hätten, wurden die beiden verhaftet. Doch wieder leugneten sie hartnäckig. Als verhörerfahrene politisch Verfolgte konnten sie heiklen Fragen geschickt ausweichen. Da auch diese Befragungen nichts Verwertbares an den Tag brachten, mussten Alban und Cratz wieder entlassen werden.
Angeklagt wurde im Fall Lessing schliesslich nur August Baron von Eyb, von dem nicht nur herauskam, dass er gar kein Baron war und eigentlich Zacharias Aldinger hiess, sondern dass er – als Schlüsselfigur des Jungen Deutschland in der Schweiz – seit Juli 1834 selbst als Polizeispitzel agierte. Seine Berichte über die Flüchtlingsszene der Schweiz wurden dem österreichischen Staatskanzler Metternich sogar persönlich unterbreitet. Aber ausser der Passfälschung konnte man Eyb/Aldinger nichts Gerichtsverwertbares nachweisen.
Dass die Strafuntersuchung im Fall Lessing schliesslich scheiterte und nie ein Täter gefunden wurde, dürfte auch auf das geringe Aufklärungsinteresse gewisser einflussreicher Zürcher Persönlichkeiten in Politik und Justiz zurückzuführen sein. Nicht nur sympathisierten diese mit den Flüchtlingen und deren Gedankengut, sondern hatten, bei zu gründlichen Nachforschungen, selbst skandalträchtige Enthüllungen zu befürchten. So hatten etliche radikal gesinnte Zürcher Regierungsräte die politisch aktiven Flüchtlinge nicht nur protegiert, sondern wohl auch finanziell unterstützt.
Der Präsident des Zürcher Obergerichts, Friedrich Ludwig Keller, durfte sogar selbst unter die Feinde Lessings gezählt werden: In einem Brief an seine Auftraggeber behauptete Lessing nämlich nicht nur, dass Keller Mazzinis Jungem Europa angehöre und darüber hinaus Gelder des Jungen Deutschland unterschlagen habe, sondern auch, dass er ein «verschlagener» Mann mit «schlechtem Privatcharakter» sei, der, «obgleich er Frau und Kinder hat, sich mehrere Frauenzimmer hält» – berichtet die zeitgenössische Darstellung von Jodocus Donatus Hubertus Temme.
Schweizweite Folgen
Der Mord an Ludwig Lessing war eine wichtige Mitursache für das sogenannte «Fremdenconclusum», das die Tagsatzung am 11. August 1836 erliess, wonach Flüchtlinge, «welche die ihnen von den Ständen zugestandene Zuflucht gemissbraucht und die innere Sicherheit und Ruhe oder die Neutralität der Schweiz und ihre völkerrechtlichen Verhältnisse (…) gefährdet haben», ausgewiesen werden sollten. Die Schweiz reagierte damit auf ausländischen Druck.
Den konservativen Mächten der «Heiligen Allianz» war die Eidgenossenschaft aufgrund ihrer vergleichsweise liberalen und demokratischen politischen Entwicklung und ihrer freizügigen Asylpolitik seit langem ein Dorn im Auge, sie hielten sie für einen Hort der politischen Unruhe, ja für eine revolutionäre Gefahrenquelle. Die Frage der politischen Flüchtlinge hatte jahrelang für diplomatische Konflikte gesorgt, Ende 1834 drohte Österreich gar mit Grenzsperre und Handelsembargo, sollte die Schweiz nicht ein strengeres Fremdengesetz einführen und politisch gesuchte Ausländer ausliefern.
Im Zuge des «Fremdenconclusums» − das zwei Jahre später allerdings schon wieder aufgehoben wurde − wurden Carl Cratz und Zacharias Aldinger, alias Baron von Eyb, zusammen mit 154 weiteren politischen Flüchtlingen, aus der Schweiz ausgewiesen. Julius Alban jedoch durfte an der Universität Zürich weiterstudieren.
Friedrich Ehrhardt, einer der aktivsten politischen Flüchtlinge Zürichs, verfügte sogar über genügend Protektion, um trotz seiner Verwicklung in den Mordfall Lessing eine Anstellung am Zürcher Bezirksgericht zu erhalten. Bereits 1836 wurde er Substitut in der Anwaltskanzlei des Zürcher Grossratspräsidenten (und späteren Bundesrates) Jonas Furrer. Nach seiner Einbürgerung wurde Ehrhardt Zürcher Staatsanwalt und Oberst der Schweizer Armee. Seine Berufslaufbahn krönte der einstige Kommunist mit dem Posten eines Rechtskonsulenten des «Eisenbahnkönigs» Alfred Escher. Der Verdacht, etwas mit dem Mord an Ludwig Lessing zu tun gehabt zu haben, blieb allerdings bis zu seinem Tod 1896 an ihm haften.
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