Ein ukrainischer Soldat beim Abfeuern eines Granatwerfers. Russland hat zuletzt seine Angriffe intensiviert.Bild: keystone
Interview
Die Historikerin Anne Applebaum ist eine ausgewiesene Russland- und Ukraine-Expertin. Im Interview erklärt sie, weshalb Wladimir Putin den Krieg eskaliert, sie den Deutschen dankbar ist und Donald Trump in Moskau mit Michail Gorbatschow verglichen wird.
Die Ukraine darf weitreichende Raketen einsetzen, um Ziele in Russland anzugreifen. Wie bewerten Sie das?
Anne Applebaum: Die wirklich wichtige Veränderung ist die Tatsache, dass Russland in den letzten Wochen den Krieg eskaliert hat. Seit den US-Wahlen hat die russische Armee ihre Vorstösse am Boden verstärkt, ebenso die Luftangriffe gegen ukrainische Städte und die Infrastruktur. Und sie hat 10’000 Soldaten aus Nordkorea in die Schlacht geworfen. Deshalb ist die Entscheidung der Biden-Regierung gerechtfertigt, den Einsatz von ATACMS und anderen Waffen zu erlauben.
Denken Sie, dass sich Präsident Biden mit Donald Trump diesbezüglich abgesprochen hat?
Nein, natürlich nicht. Das war ausschliesslich Joe Bidens Entscheid.
Bild: Michele Limina/SIAF
Anne Applebaum
Weshalb eskaliert Wladimir Putin den Krieg ausgerechnet, bevor Trump ins Weisse Haus einzieht?
Um eines klarzustellen: Ich weiss nicht, was sich Putin überlegt. Aber er ist niemals von den Zielen abgewichen, die er mit diesem Krieg erreichen will. Er hat von Beginn weg betont, dass er die vollständige Zerstörung der Ukraine als Nation anstrebt. Nie hat er gesagt, meine Soldaten kämpfen, um die Region Donezk zu erobern.
Das könnte er aus innenpolitischen Gründen gar nicht tun. Wie wollte er das angesichts der horrenden Verluste seiner Armee auch rechtfertigen?
Er kann alles rechtfertigen. Von verschiedenen Seiten wurde er aufgefordert, Friedensverhandlungen aufzunehmen. Er hat stets abgelehnt. Vielleicht wird er es jetzt tun, vielleicht auch nicht. Nur weil die USA bald eine neue Regierung haben, wird er seine Politik nicht ändern. Aber ich kann mich irren. Wie gesagt, ich habe keine speziellen Informationen.
Was halten Sie davon, dass sich Olaf Scholz nach wie vor weigert, den Marschflugkörper Taurus an die Ukraine zu liefern?
Scholz befindet sich im Wahlkampf und will sich als Friedenskanzler profilieren. Mit wenig Erfolg, wie sein Telefonat mit Putin vor ein paar Tagen gezeigt hat. Die Russen haben mehrmals bewiesen, dass sie nicht auf Verhandlungsangebote reagieren. Sie reagieren nur auf «Hard Power». Deshalb ist es eine Illusion zu glauben, man könne diesen Krieg mit reiner Diplomatie beenden – es sei denn, etwas Grundsätzliches würde sich ändern.
Olaf Scholz und seine Mitarbeiter beim Telefonat mit Wladimir Putin am letzten Freitag.Bild: www.imago-images.de
Was könnte das sein?
Ich kann mir vorstellen, dass in Moskau ein Umdenken erfolgt. Wir sprechen hier von einem Kolonialkrieg. Betrachtet man die Geschichte solcher Kriege – beispielsweise von Frankreich in Algerien –, kommt irgendwann der Punkt, an dem die Menschen zur Einsicht gelangen, dass es sich schlicht nicht mehr lohnt, den Krieg fortzusetzen.
«Natürlich könnten die Ukrainer in einen Waffenstillstand einwilligen. Voraussetzung dafür ist jedoch eine Garantie, dass die Russen ihn nicht umgehend wieder brechen.»
Anne Applebaum
Und die Russen werden ebenfalls zu diesem Punkt gelangen?
Die britischen Geheimdienste schätzen, dass sich ihre Verluste auf 700’000 Tote und Verwundete belaufen. Dazu kommen Milliardenverluste in der Wirtschaft. Hunderttausende junge Männer haben das Land verlassen. U-Boote, Flugzeuge, Panzer und Artillerie wurden massenhaft zerstört. Obwohl es bisher nicht absehbar ist, denke ich, dass Putin oder die Männer seines innersten Kreises sich sagen könnten: Das lohnt sich nicht mehr.
Können die Ukrainer so lange durchhalten, bis Putin diesen Punkt erreicht hat?
Natürlich könnten die Ukrainer in einen Waffenstillstand einwilligen. Voraussetzung dafür ist jedoch eine Garantie, dass die Russen ihn nicht umgehend wieder brechen.
Was wäre eine solche Garantie?
Etwas, das den Ukrainern absolute Sicherheit verspricht. Sonst werden sie zu Recht sagen: Weshalb sollen wir einen Waffenstillstand abschliessen, wenn die Russen im nächsten Jahr wieder angreifen? In diesem Fall würden die Ukrainer massenhaft ausser Landes fliehen. Sie wären nicht in der Lage, ihre Wirtschaft und ihre Armee wieder aufzubauen. Darum geht es den Ukrainern, nicht um ein bestimmtes Stück Land. Sie wollen als souveräne Nation überleben können. Eine andere Lösung werden sie nicht akzeptieren.
Wolodymyr Selenskyj besucht verwundete Soldaten: Die Ukrainer wollen absolute Sicherheit vor einem weiteren russischen Angriff.Bild: keystone
Zynisch gesagt könnten die Ukrainer ja nicht unglücklich darüber sein, wenn sie den Donbass an die Russen abtreten, handelt es sich doch um einen «Rostgürtel» mit einer überalterten Bevölkerung.
Es leben kaum noch Menschen dort. Es geht auch weniger um den Donbass als um die Krim. Sie ist eine Art riesiger Flugzeugträger, von dem aus die Russen ihre Angriffe starten. Das ist eine unmittelbare Gefahr, vor allem für den Süden der Ukraine und Häfen wie Odessa. Wie eine Lösung bezüglich der Krim aussehen wird, weiss ich nicht. Doch jeder Versuch, einen Frieden abschliessen zu wollen, ohne den Ukrainern die absolute Sicherheit vor einem weiteren russischen Angriff zu geben, wird keinen Erfolg haben.
Welche Rolle spielt Deutschland in diesem Krieg? Nehmen die Deutschen ihre Verantwortung wahr?
Die Deutschen haben mehr gemacht, als wir erwarten durften. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Ich bin Olaf Scholz auch dankbar für seine «Zeitenwende»-Rede. Ebenso hat es in der breiten Bevölkerung einen grossen Gesinnungswandel gegeben bezüglich der Frage, weshalb sie die Ukraine unterstützen muss. Mit Ausnahme der USA haben die Deutschen auch den grössten Anteil an der Hilfe für die Ukraine getragen.
Gibt es nicht auch Gründe für Kritik?
Scholz hat dieses magische Denken bezüglich des Kriegsendes. Er hat Mühe, das moderne Russland so zu sehen, wie es ist: Ein Land, das bösartige Absichten gegenüber Europa hat.
Wie erklären Sie sich das?
Ich kann es nicht nachvollziehen, vielleicht sind dies die alten Instinkte der Sozialdemokraten.
«Polen, die baltischen Staaten, die Nordeuropäer und das Vereinigte Königreich bilden eine starke Gruppe, denn sie fühlen sich von Russland physisch bedroht.»
Anne Applebaum
Die erfolgreiche Ostpolitik von Willy Brandt?
Diese Politik gilt vor allem in der Erinnerung als sehr erfolgreich. In der Gegenwart verüben die Russen jedoch Sabotageakte gegen Deutschland und ganz Europa. Offenbar hat ein chinesisches Schiff mit einer russischen Besatzung ein Tiefseekabel in der Ostsee durchtrennt. Zudem haben russische Agenten in Deutschland und im Vereinigten Königreich Brände gelegt und Menschen umgebracht, und die Russen überziehen vor allem Deutschland mit einer sehr gut organisierten Propaganda-Kampagne.
Wie beurteilen Sie die Reaktion der deutschen Regierung auf diese Probleme?
Ich glaube nicht, dass Kanzler Scholz die Gefahr, die von Russland für sein Land ausgeht, vollumfänglich erkannt hat. Scholz wird höchstwahrscheinlich bald abgewählt.
Ist das positiv für die Ukraine?
Oh Gott, ich will mich nicht in die deutsche Politik einmischen. Ich kenne Friedrich Merz nicht und bin ihm vielleicht einmal begegnet. Sollte er der nächste Kanzler werden, dann könnte sich die Politik gegenüber der Ukraine ändern. Aber ich weiss es wirklich nicht.
Diese Woche trafen sich die Aussenminister Frankreichs, Italiens, Polens und Deutschlands in Warschau.Bild: keystone
Europa wirkt derzeit sehr geschwächt. Deutschland befindet sich im Wahlkampf, Frankreich ist politisch instabil, das Vereinigte Königreich mit sich selbst beschäftigt.
Ich sehe das nicht so schwarz. Polen, die baltischen Staaten, die Nordeuropäer und das Vereinigte Königreich bilden eine starke Gruppe, denn sie fühlen sich von Russland physisch bedroht. Sie beginnen deshalb, miteinander zu kooperieren. Diese Woche hat in Warschau eine Konferenz mit Vertretern von Deutschland, Polen, Italien und Frankreich stattgefunden, in der die Probleme und mögliche Lösungen diskutiert wurden.
«Sollte Putin morgen etwas zustossen – er könnte ja aus einem Fenster fallen –, haben wir keine Ahnung, wer sein Nachfolger sein und wie diese Person ausgewählt wird.»
Anne Applebaum
In Ihrem jüngsten Buch «Die Achse der Autokraten» beschreiben Sie aber auch, dass sich die Gegner des liberalen Westens zusammenschliessen.
Ich spreche bei den Autokratien von einem Netzwerk, nicht von einer Allianz. Und von Ländern, die sehr unterschiedliche Interessen verfolgen und sich wirtschaftlich auf sehr unterschiedlichen Niveaus befinden. Wir haben China, das immer noch kommunistisch ist. Russland ist nationalistisch, der Iran ein Gottesstaat, Venezuela und Kuba sozialistisch, und was immer Nordkorea sein mag. Sie kooperieren miteinander, aber auf einer opportunistischen Basis, wenn es ihnen gerade passt.
Bis zum 5. November sprach man von einer neuen «Achse des Bösen» gegen den Westen. Gilt dies mit dem Wahlsieg von Donald Trump weiterhin? Oder müssen wir bald auch die USA zur «Autokraten-Achse» zählen?
Nein. Trump hat keine Ideologie, deshalb ist er so schwer auszurechnen. Er ist der ultimative Narzisst, der vor allem an seiner Macht interessiert ist. Im Wahlkampf sprach er ausführlich darüber, wie er sich an seinen amerikanischen Widersachern rächen will. Trump ist auch sehr transaktional, er will Deals abschliessen. Seinen Plan bezüglich Russland und China haben wir bisher nicht erfahren. Wenn man sieht, welche Leute er für sein Kabinett ausgewählt hat, kommt man zum Schluss, dass sie ebenfalls keinen Plan haben.
Marco Rubio soll Donald Trumps Aussenminister werden.Bild: keystone
Mit Marco Rubio als Aussenminister und Mike Waltz als Sicherheitsberater hat er zumindest in der Aussenpolitik vernünftige Lösungen getroffen.
Für Rubio trifft dies sicherlich zu. Nur weiss ich nicht, wie wichtig das Aussenministerium in Trumps Regierung sein wird. Auf der anderen Seite hat Tulsi Gabbard, die als Chefin aller Geheimdienste nominiert ist, verschiedentlich russische Propaganda wiedergekäut.
Die Autokratien verfolgen nicht nur unterschiedliche Interessen, sie haben auch grosse innenpolitische Probleme.
Aber sicher. Zum Beispiel Russland: Sollte Putin morgen etwas zustossen – er könnte ja aus einem Fenster fallen –, haben wir keine Ahnung, wer sein Nachfolger sein und wie diese Person ausgewählt wird. Das heisst auch, dass Russland bei einem allfälligen Tod Putins in eine Krise stürzen würde. Das Potenzial dafür ist systemimmanent.
Gilt dies für alle Autokratien?
Für China nicht, dort sorgt die Kommunistische Partei für die Nachfolge. Aber China hat ein Überalterungs-Problem und wirtschaftliche Schwierigkeiten. Der Iran hat grosse Probleme, und einige Autokratien gehören zu den ärmsten und am schlechtesten regierten Ländern der Welt. Denken Sie an Venezuela, Simbabwe, Kuba, Syrien, Mali und Myanmar. Das sind alles andere als stabile, glückliche Orte. Macht können sie einzig in einem Netzwerk ausüben.
In einer Kolumne in der «New York Times» wurde die These vertreten, wonach Moskau die Wahl von Donald Trump begrüsst, weil man ihn als amerikanisches Gegenstück zu Michail Gorbatschow sieht, als den Mann, der die USA ins Verderben führen wird. Was halten Sie von dieser These?
Sie stammt von Mikhail Zygar, ich kenne ihn gut. Es trifft zu, dass die Russen in dieser Weise über Trump sprechen, und ich vermute, deshalb haben sie ihn auch unterstützt.
«Die liberale Demokratie wurde als Normalzustand angesehen, doch das hält einer historischen Betrachtung nicht stand.»
Anne Applebaum
Und was ist von dieser These zu halten?
Das meiste ist russische Fantasie. Sie stellen sich vor, die USA würden wie die Sowjetunion kollabieren. Und sie sehen in Trump den Mann, der dies herbeiführen wird. Für diese Spekulation ist es ein wenig früh. Trump sitzt ja noch nicht einmal im Weissen Haus.
Viele Menschen haben Angst vor einem Dritten Weltkrieg. Für wie gefährlich halten Sie die Welt heute?
Die Welt ist immer gefährlich. Meine Generation, die Boomer, hatte wirklich grosses Glück. Wir haben während einer unüblich langen Friedensperiode gelebt, vor allem in Europa. Die liberale Demokratie wurde als Normalzustand angesehen, doch das hält einer historischen Betrachtung nicht stand. Man wusste immer, dass die liberale Demokratie Schwachpunkte hat und deshalb leicht angreifbar ist.
Trifft dies auch für die USA als «Mutterland der Demokratie» zu?
Ja, schon die Gründerväter wussten dies. Alexander Hamilton warnte, dass es einem Demagogen gelingen würde, an die Macht zu kommen und die Menschen auf ihn hören würden. Deshalb versuchten sie, dies in der Verfassung zu verunmöglichen.
Offenbar waren sie nur begrenzt erfolgreich.
Das Elektorensystem wurde nicht erfunden, damit die Menschen im Bundesstaat Pennsylvania darüber entscheiden können, wer Präsident wird. Es sollte verhindern, dass die Demokratie zu einer Diktatur des Pöbels verkommt. Das hat nie funktioniert. Schon einer der ersten Präsidenten, John Quincy Adams, hatte das Volksmehr nicht erreicht und wurde deshalb nie als legitimer Präsident akzeptiert. Das war zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Nach dem Ende des Kalten Kriegs schien die liberale Demokratie unangefochten zu sein.
Wir hatten Glück, wir hatten eine lange Erfolgssträhne. Jetzt kehren wir zu einem Zustand zurück, der historisch betrachtet normaler ist.
Das heisst auch, dass Europa sehr viel mehr Verantwortung übernehmen muss.
Ja, und ich habe das Gefühl, die Europäer sind im Begriff, dies zu verstehen. Ich zähle auf die europäische Führung.