Als «King Cotton» die Welt regierte

Baumwolle war der wichtigste Rohstoff des 19. Jahrhunderts. Doch die wenigsten Künstler interessierten sich dafür. Zu ihnen gehörte Edgar Degas. Sein Gemälde eines Baumwollkontors in New Orleans hat es in sich.

Barbara Basting / Schweizerisches Nationalmuseum

Im 19. Jahrhundert wurde Baumwolle zum entscheidenden Treiber der Industrialisierung. Von der Menschheit schon seit Jahrtausenden gezüchtet und verarbeitet, insbesondere in Indien und Ostasien, aber durch Importe über Venedig ab dem 12. Jahrhundert auch in Italien und Süddeutschland, wurde sie zum entscheidenden «Beschleuniger» der Industrialisierung.

Neueren historischen Erkenntnissen zufolge ist sie nicht weniger als «ein Schlüssel zum Verständnis der modernen Welt, der grossen Ungleichheiten, die sie charakterisieren, der langen Geschichte der Globalisierung und der sich ständig wandelnden politischen Ökonomie des Kapitalismus». Diese These jedenfalls vertritt der Historiker Sven Beckert in seinem packenden Buch King Cotton – Eine Geschichte des globalen Kapitalismus.

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Rohbaumwolle galt als «weisses Gold» und lief den zuvor dominierenden Naturfasern wie Leinen und Wolle den Rang ab, nachdem im England des 19. Jahrhunderts Methoden zu ihrer industriellen Verarbeitung erfunden worden waren. Schon zuvor hatte der Indiennes-Handel, der Dreieckshandel der Europäer mit den lange unübertroffenen indischen Baumwollstoffen in Afrika, wo sie gegen Sklaven für den Transatlantikhandel getauscht wurden, die Grundlagen dafür gelegt. Denn ohne diese Sklaven wäre die enorme Steigerung der Baumwollproduktion in Amerika unmöglich gewesen.

Die Industrialisierung hingegen führte zur Entstehung eines industriellen Proletariats in Europa. Durch Baumwollhandel und -verarbeitung entstanden in der Folge weltumspannende Handelsimperien und grosse Vermögen. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist die 1851 gegründete Firma Volkart (später Reinhart) in Winterthur. Sie war bis zu ihrer Auflösung 1999 der weltweit viertgrösste Baumwollhändler.

Trotz dieser enormen Bedeutung der Baumwolle war sie kaum je ein Thema für Künstler. Eine der erstaunlichen Ausnahmen ist das Baumwollkontor in New Orleans, das der französische Künstler Edgar Degas (1834–1917) bei seinem dortigen Aufenthalt 1873 gemalt hat. Degas machte sich bald darauf im Kontext des Impressionismus vor allem mit seinen Tänzerinnen einen Namen.

In seiner künstlerischen und persönlichen Entwicklung markiert das Baumwollkontor in New Orleans (1873) in mehrfacher Hinsicht einen Wendepunkt. Der Maler, der sich mit zunächst durchzogenem Erfolg am schon überholten Ideal des Historienbildes und an klassizistischen Vorbildern wie Jean-August-Dominique Ingres orientiert hatte, versuchte mit diesem Werk seine Karriere neu zu lancieren. Auf dem Bild zeigt er uns auch gleich die Gründe dafür.

Wir blicken in eine Geschäftsetage der späten Gründerzeit. Eine weisse, sichtlich gut situierte Männergesellschaft im Dienst von «King Cotton» hat von hier aus an den internationalen Handels- und Finanzströmen teil. Mit dieser Milieustudie aus der Arbeitswelt – die allerdings die in New Orleans zahlreichen Schwarzen komplett ausblendet, obwohl sie zumindest als Hilfskräfte auch in einem solchen Kontor aufgetaucht sein dürften – scheint Degas zunächst an historische Vorbilder wie Rembrandts Vorsteher der Tuchmacherzunft anzuknüpfen.

Doch liegen Jahrhunderte und Welten zwischen den selbstsicher auf uns und die Welt blickenden niederländischen Tuchmachern und dem eigenartig selbstbezogenen Treiben der Baumwollhändler in der neuen Welt. Degas führt sie auf einer Guckkastenbühne im extremen Weitwinkel wie versprengte Exemplare einer exotischen Spezies vor. Das Zentrum ihres Tuns, die Baumwolle, zeigt er in Form eines ausgebreiteten Ballens. Zwei Männer prüfen den Flausch.

Hier setzt Degas sich zugleich selber in Szene, und zwar als Künstler, der uns mit einer betörend wolkigen Oberfläche in changierenden Weisstönen verführen will. Kaum eine andere Zone in dem Gemälde kostet er derart intensiv aus. Eine kurz darauf entstandene zweite, wesentlich konzentriertere Variante des Baumwollkontors bestätigt dieses Interesse. Degas verzichtet in dieser Fassung fast vollständig auf die anekdotische Dimension seines Themas, ist auf dem Weg zur malerischen Abstraktion der Moderne.

Das Baumwollkontor illustriert aber auch Degas’ Fähigkeit, psychologisch aufgeladene Porträts zu malen. So lässt er den würdigen Herrn mit Zylinder im Vordergrund, der ebenfalls ein Büschel Baumwolle prüft, als schmallippigen Kenner mit dem Doppelkinn eines Bonvivants erscheinen.

Zugleich gibt Degas’ Szenerie einige Rätsel auf. Wer ist dieser Herr? Ein kritischer Kunde oder gar der Besitzer des Unternehmens? Der konzentriert arbeitende Schnurrbartträger am Stehpult dürfte der Buchhalter sein. Was aber hat es mit den beiden Dandys auf sich, die Kaffeehausatmosphäre verbreiten? Einer lehnt als Randfigur gelangweilt links am Fenster. Der lässig hingefläzte Zeitungsleser mit Zigarette sitzt in der Bildmitte und ausserdem in der Diagonalen, die vom Baumwollprüfer nach hinten in Richtung eines nur flüchtig angedeuteten Seestücks mit Segelschiff führt.

Das ist kein Zufall bei einem Künstler wie Degas. Denn das Gemälde im Gemälde ist keinesfalls nur ein harmloses Requisit. Segelschiffe verfrachteten jene Sklaven, die für den Baumwoll-Boom in den USA benötigt wurden. Ein weiteres sprechendes Detail ist der Papierkorb im Vordergrund, der fast über den Bildrand zu quellen scheint.

Des Rätsels Lösung: Degas stellt uns hier das Baumwollkontor seines Onkels Michel Musson in New Orleans vor. Der Baumwollprüfer im Vordergrund ist Michel Musson, der Mann am Stehpult sein Teilhaber John E. Livaudais. Die beiden Dandys hingegen sind Degas’ Brüder Achille und René.

Der eigentliche Schlüssel zum Gemälde jedoch ist sein Entstehungsjahr 1873. Am 1. Februar 1873 hatte die Baumwollhandelsfirma Musson, Livaudais, Prestidge & Co. Konkurs angemeldet – und zwar in der Zeitung, die René Degas gerade liest. Edgar Degas, der René nach New Orleans begleitet hatte, um den politischen Wirren in Frankreich zu entkommen, porträtierte dort einige Familienmitglieder. Auch das Baumwollkontor ist ein Familienbild. Aber was für eines! Degas friert den für ihn dramatischen Moment ein, in dem die Familie pleitegeht.

Achille Degas, gemalt von seinem Bruder, 1864.Bild: Wikimedia

Der Konkurs hatte mehrere Ursachen. Zunächst führten der amerikanische Bürgerkrieg 1862 und seine Folgen zu enormen Verwerfungen im bereits global vernetzten Baumwollhandel. Durch die Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten der USA fiel das Land als Baumwollproduzent im bisherigen Umfang erst einmal aus. Noch dazu schickte ein Börsencrash 1873 Schockwellen durch die Finanzmärkte.

Die tieferliegende Ursache für den Untergang von Firma Musson, Livaudais, Prestidge & Co. war jedoch ein überholtes Geschäftsmodell. Durch das Aufkommen von Eisenbahnen und Telegrafen änderten sich die Bedingungen für das spekulative Termingeschäft, mit dem Michel Musson reich geworden waren. Wer darin weiterhin erfolgreich sein wollte, musste mit der neuen Transport- und Kommunikationsinfrastruktur sowie den aktuellsten Finanzierungsmodellen Schritt halten.

Edgar Degas hat das klar erfasst, indem er seinen Bruder René mit der Zeitung darstellt, dem für seine Zwecke überholten Informationsmedium. Tatsächlich hatte René mit Fehlspekulationen den Untergang der Firma Musson besiegelt. Wegen der gewagten finanziellen Verflechtungen der Familie trieb der Bankrott auch Edgar Degas und dessen Vater Auguste, einen Bankier aus Neapel mit Sitz in Paris, in den Ruin.

Der schnelle Ausbau der Eisenbahn in den USA veränderte die Art und Weise, wie Geschäfte gemacht wurden. Nicht alle konnte da Schritt halten. Erster Zug, der ab den 1880er-Jahren zwischen Houston und  ...

Der schnelle Ausbau der Eisenbahn in den USA veränderte die Art und Weise, wie Geschäfte gemacht wurden. Nicht alle konnten da Schritt halten. Erster Zug, der ab den 1880er-Jahren zwischen Houston und New Orleans verkehrte.Bild: Library of Congress

Bedeutende Anteile am Familienvermögen hatte Degas’ Mutter Célestine Musson eingebracht, die Schwester von Michel Musson. Ihr Vater, der Franzose Germain Musson, hatte in Haiti mit Baumwoll- und Silberhandel die Grundlagen des Familienvermögens gelegt und siedelte wegen der dortigen Aufstände 1804 nach New Orleans in Louisiana über, das kurz zuvor US-Bundesstaat geworden war.

In Germain Mussons zunächst florierendes Handelsunternehmen stieg neben seinem Sohn Michel mit der Zeit auch Edgars Bruder René ein. Doch nach dem amerikanischen Bürgerkrieg war die Familie nicht nur kommerziell, sondern auch politisch auf der Verliererseite. Michel Musson, der persönlich mehrere Sklaven besessen hatte, liess sogar noch auf Kosten seines Neffen Edgar eine Immobilie aus dessen grossväterlichen Erbe gegen Anleihen der Südstaaten-Konföderation eintauschen. Ein Debakel.

Spätestens an dieser Stelle lohnt sich ein Seitenblick auf die parallel wirkende Firma Volkart. Während die Firma von Degas’ Familie in New Orleans infolge der tektonischen Verschiebungen im Baumwollgeschäft unterging, hatte man in Winterthur, wohl auch aufgrund der Verbindungen zu England, die Zeichen der Zeit besser zu deuten gewusst. Volkart expandierte daher zunächst in Indien. Eine regelmässige Vertretung in den USA etablierte sie erst ab den 1880er-Jahren, um schliesslich entscheidenden Anteil am erneuten Boom des amerikanischen Baumwollgeschäfts nach dem 1. Weltkrieg zu haben.

Kunst als Broterwerb

Den bisher gut situierten Degas traf die Familienpleite existentiell. Plötzlich musste er von seiner Kunst leben. Mit dem Baumwollkontor wollte er die Sache strategisch geschickt angehen. Seinem Künstlerkollegen James Tissot gegenüber bezeichnet Degas sein Gemälde sogar als «mon cotton», seine Baumwolle, sprich: sein Kapital. Er hatte einen möglichen Käufer dafür im Visier, den englischen Kunstsammler William Cottrill. Cottrill war als Spinnereibesitzer in Manchester ebenfalls im Baumwollgeschäft engagiert.

Doch auch Cottrill hatte die amerikanische Baumwollkrise übel mitgespielt. Er war gerade dabei, seine Kunstsammlung abzustossen. Unabhängig davon hatte er kein Interesse an der Darstellung eines gescheiterten Kollegen in den USA. Das Sensorium für Degas’ Bildsprache ging ihm ohnehin ab.

Degas zeigte sein Cotton Office erstmals an der zweiten Impressionistenausstellung 1876 in Paris einem breiteren Publikum. Trotz guter Resonanz fand es aber auch dort keinen Käufer. Leicht verzweifelt schickte der Künstler das Gemälde 1878 zu einem Salon ins neu gegründete Kunstmuseum von Pau. Dort wurde es sogar angekauft. Der erste Museumsankauf eines impressionistischen Werks erfolgte zum Rabattpreis.

Und er hatte mit der Entwicklung des Tourismus als neuem, aufstrebendem Wirtschaftszweig zu tun, für den die Kunst bald unverzichtbar war. Denn Pau als Sommerfrische in Südwestfrankreich wollte den reichen Engländern und Amerikanern, die hierherkamen, etwas Besonderes bieten. Eine Szene aus New Orleans schien dafür ideal, zumal mancher Gast sein Geld der Textilindustrie verdankte.

Die Stadt Pau, hier auf einer Lithografie von Pierre Grose, wollten den anglosächsischen Touristen etwas bieten. Auch deshalb kaufte das lokale Kunstmuseums Degas Bild.
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Die Stadt Pau, hier auf einer Lithografie von Pierre Grose, wollte den angelsächsischen Touristen etwas bieten. Auch deshalb kaufte das lokale Kunstmuseum Degas’ Bild.Bild: Wikimedia

Nach den schlechten Erfahrungen mit dem Baumwollkontor entdeckte Degas ganz andere Arbeitswelten für seine Malerei: die der Büglerinnen und Tänzerinnen, mit denen er schliesslich für Furore sorgte. Eine dieser Tänzerinnen landete schliesslich sogar in der Impressionisten-Sammlung eines Erben der Baumwoll-Dynastie Volkart in Winterthur: Oskar Reinhart, der 1918 seinen Austritt aus der Geschäftsführung erklärte, um sich voll seiner Sammeltätigkeit zu widmen, erwarb sie 1923.

Er hatte sich nach dem Tod von Degas 1917 auch für Werke aus der Kunstsammlung von Degas interessiert, war hier aber nicht zum Zuge gekommen. Mit Degas’ Kunst war er ohnehin nur allmählich warm geworden, und dessen Porträts interessierten ihn grundsätzlich mehr als die Tänzerinnen. Vielleicht hätte er mit dem Baumwollkontor etwas anfangen können. Das Gemälde hatte inzwischen den Rang eines modernen Historienbildes erreicht. Doch für Sammler war es inzwischen unerreichbar.

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