Briefmarken der Pro Juventute.Bild: Museum für Kommunikation/Sammlung Philatelie
13.10.2024, 17:3314.10.2024, 08:18
Juri Jaquemet / Museum für Kommunikation
Von 1926 bis 1973 entreisst das «Hilfswerk Kinder der Landstrasse» zusammen mit Vormundschaftsbehörden fast 600 jenische Kinder den Eltern und löst deren Familien gewaltsam auf. Die betroffenen Kinder werden in Erziehungsheime eingewiesen oder Landwirtschaftsbetrieben als billige Arbeitskräfte zugeteilt. Das «Hilfswerk» ist Teil der Stiftung Pro Juventute.
Letztere finanziert sich in Zusammenarbeit mit der PTT über den Verkauf von «Wohltätigkeits»-Briefmarken. Verkauft werden die Briefmarken schweizweit von Schüler:innen, die von Haus zu Haus ziehen. Dieser Blogbeitrag geht der Frage nach, in welchem Ausmass die Einnahmen aus den Pro Juventute-Briefmarkenverkäufen das Unrecht mitfinanzierten.
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Pro Juventute und das «Hilfswerk Kinder der Landstrasse»
Die 1912 gegründete Stiftung Pro Juventute engagiert sich anfangs für Kinder, die an Tuberkulose erkrankt sind und baut ihr Engagement auf verschiedene Bereiche wie Mütterberatung, Hilfe für Bergkinder und kriegsgeschädigte Kinder, Ausbildungsstipendien, Förderung von Spielplätzen, Aufbau schulärtzlicher Dienste und Ähnliches aus.
Pro Juventute finanziert sich zwischen 1912 und 1970 grösstenteils durch den Verkauf von «Wohltätigkeits»-Briefmarken, Postkarten und Telegrammen mit Wertzuschlag sowie durch Spenden, vermachte Erbschaften und Beiträge der öffentlichen Hand. Der jährliche Verkauf der Pro Juventute-Briefmarken erfolgt durch Schüler:innen. Dies trägt zur starken Verankerung der Stiftung in der Bevölkerung bei.
Der Stiftungsrat ist prominent mit Personen aus Politik, Verwaltung, dem kirchlichen Umfeld, Wirtschaft, und Armee besetzt. Für die Post-, Telefon- und Telegrafenbetriebe PTT nimmt meist ein Generaldirektor Einsitz im Gremium. Der Stiftungsrat wird von Bundesräten präsidiert, was der Stiftung halbstaatlich-offiziösen Charakter verleiht.
Bild: Museum für Kommunikation/Sammlung Philatelie
Bild: Museum für Kommunikation/Sammlung Philatelie
Im kollektiven Gedächtnis vieler Schweizer:innen verankert: In der Schulzeit haben sie für Pro Juventute solche goldenen Umschläge mit Pro-Juventute-Briefmarken verkauft.Bild: Museum für Kommunikation/Sammlung Philatelie
Pro Juventute verantwortet auch das 1926 gegründete «Hilfswerk» Kinder der Landstrasse. In Zusammenarbeit mit den Vormundschaftsbehörden werden Familien von Jenischen systematisch und gewaltsam aufgelöst. Gegen ihren Willen werden Kinder in Heimen und psychiatrischen Anstalten untergebracht oder als billige Arbeitskräfte Bauernfamilien zugeteilt. Dort leiden sie oft schwer. Ihre körperliche, psychische und sexuelle Integrität oder ihre geistige Entwicklung wird unmittelbar und in schwerer Weise beeinträchtigt.
Offizielles Ziel ist es, die fahrende Lebensweise zu bekämpfen. In Wirklichkeit lebt die grosse Mehrheit der Jenischen sesshaft. Das «Fahren» ist aber ein Teil der jenischen Kultur und wichtiges Element der selbständigen Erwerbsarbeit. Die Aktivitäten zielen somit auf die Auslöschung ihrer Kultur. Dabei verschränken sich rassistische Argumente mit damaligen Gesellschaftsnormen. Ersteres steht im Kontext des Antiziganismus in der Schweiz, von dem auch Siniti und Roma betroffen sind. Letzteres verweist auf die sehr ähnlich gelagerten Administrativen Versorgungen, mit denen gesellschaftliche Erwartungen rigoros durchgesetzt werden.
Das erschütternd gewaltsame halbstaatliche Regime von «Kinder der Landstrasse» hält bis 1973 an. In diesem Jahr erfolgt die Auflösung des «Hilfswerks» – Anstoss sind Berichte in der Zeitschrift «Beobachter». Zwischen 1926 und 1973 entreisst Pro Juventute insgesamt 586 zumeist jenische Kinder ihren Eltern.
Alfred Siegfried – die zentrale Figur des «Hilfswerks»
Die zentrale Figur des «Hilfswerks» ist Alfred Siegfried (1890–1972). Der promovierte Geisteswissenschaftler ist ab 1924 Mitarbeiter des Zentralsekretariats der Pro Juventute und leitetet dort 1927–1957 die «Abteilung Schulkind». Siegfried ist Gründer, Triebfeder und Leiter des «Hilfswerk Kinder der Landstrasse». Vor 1924 amtet Siegfried als Lehrer. Am Gymnasium in Basel wird er 1924 wegen sexuellem Missbrauch eines Schülers (wiederholte gegenseitige Onanie mit einem Zwölfjährigen) entlassen. Das zuständige Gericht verhängt nur eine bedingte Gefängnisstrafe. Die Anstellung bei Pro Juventute erfolgt vermutlich in Unkenntnis der pädophilen Neigungen Siegfrieds.
Bei Pro Juventute wird Siegfried bis zu seiner Pensionierung Vormund und Beistand von 499 jenischen Kindern. Geschickt nutzt er dabei bereits bei der Administrativen Versorgung durchexerzierte Handlungsabläufe von Verwaltungsbürokratie und Gesellschaft für seine Zwecke aus. Seine Schriften und sein Handeln sind von rassistischen Argumenten geprägt. Zudem missbraucht er wohl seine Macht erneut für Sexualdelikte. Mehrere seiner Mündel werfen Siegfried sexuellen Missbrauch vor. Juristisch werden diese Vorwürfe aber nie geklärt.
Siegfried stirbt 1972 – unbehelligt und gesellschaftlich respektiert – kurz vor der Veröffentlichung der «Beobachter»-Artikel. Die NZZ vermeldet den Tod Siegfrieds am 29. März 1972 und schreibt in einem kurzen Nachruf: «Sein Lebenswerk bestand jedoch in der Sozialisierung der ‘Kinder der Landstrasse’». Am Grab sprach ein Geistlicher von einem «Charismatiker der Nächstenliebe».
Die Vertragspartner Pro Juventute und PTT
In Bezug auf die Finanzierung des Unrechts ist die Rolle der PTT nicht genau geklärt. Wie viel Geld aus dem Verkauf von «Wohltätigkeits»-Briefmarken, Glückwunsch- und Trauertelegrammen kommt «Kinder der Landstrasse» zugute? Es sind Fälle dokumentiert, in denen fremdplatzierte jenische Kinder in den 1960er Jahren selbst Pro Juventute-Briefmarken verkauft haben. Wie viel trug dieses Engagement zur Finanzierung des eigenen erlittenen Unrechts bei? Dieser Blog-Beitrag wagt eine erste Spurensuche – kann aber viele Fragen nicht abschliessend klären.
Ab 1912 ist die enge Zusammenarbeit zwischen der PTT und Pro Juventute mit einem Vertrag geregelt, der ungefähr alle 10 Jahre überarbeitet und aktualisiert wird. Die Pro Juventute-Briefmarken mit Wertzuschlag werden nach besonderen Entwürfen gefertigt. Für die Wettbewerbe werden bekannte Künstler:innen eingeladen. Die Bildwahl erfolgt durch einen von der PTT-Verwaltung einberufenen Prüfungsausschuss.
Herstellung und Druck der speziellen Postwertzeichen unterliegen – wie bei normalen Briefmarken auch – der Post. Im Dezember findet jeweils der Verkauf der Briefmarken statt. Die «besinnliche» Adventszeit eignet sich ideal für karitative Sammelaktionen. Der Verkauf der Briefmarken wird von den einzelnen Bezirkssekretariaten der Stiftung organisiert und von Schüler:innen durchgeführt.
Paradox ist dabei, dass die Schüler:innen für den Verkauf der Briefmarken von Türe zu Türe gehen. In kantonalen Verordnungen ist derweil das «Hausieren» im Familienverband den Jenischen streng verboten. Die Wohlfahrtsbriefmarken werden zudem an den Postschaltern verkauft. Der Verteilschlüssel der Einnahmen gestaltet sich wie folgt:
- Die PTT-Verwaltung nimmt den Taxwert jeder verkauften Marke.
- Der Wohlfahrtsfonds des PTT-Personals erhält jährlich 20’000 CHF als Verkaufsprovision auf den an den Postschaltern verkauften Briefmarken.
- Der verbleibende Saldo – resultierend aus den Wertzuschlägen auf jeder verkauften Marke – geht an Pro Juventute.
- Ab 1950 gehen 10 % des Reinerlöses an «Mitnutzniesser». Damit unterstützt die PTT andere Institutionen, die sich um das Wohl von Kindern kümmern, wie z. B. Ferienheime, Krippen, Kindertheater und Ähnliches.
Eine Auflistung der jährlichen Einnahmen sprengt den Rahmen dieses Blogs. Zwei Jahresabrechnungen der PTT liefern einen groben Referenzwert. Im Jahr 1952 beläuft sich der Reinerlös aus dem Briefmarkenverkauf für Pro Juventute auf 1,5 Millionen CHF, 1963 sind es fast 3 Millionen CHF (teuerungsbereinigt ca. 7 und 11 Millionen CHF von 2024). Eine weitere Einkommensquelle für die Stiftung Pro Juventute generiert die PTT ab 1918 mit Glückwunsch- und Beileidstelegrammen.
Im Zeitraum 1918–1968 werden 17 Millionen sogenannter «LX-Telegramme» zugestellt, was Pro Juventute zusätzliche 10 Millionen CHF einbringt (teuerungsbereinigt ca. 30–40 Millionen CHF von 2024). Die Telegramme finden sich in «Schmuckblättern», welche von namhaften Schweizer Künstler:innen gestaltet werden. Auch hier findet für die Motiv-Auswahl jeweils ein Wettbewerb statt.
Die PTT sichert der Pro Juventute über Jahrzehnte mit den «Wohltätigkeits»-Briefmarken und den Telegrammen ihre Existenz. Dass dieses lobenswerte karitative Engagement des Staatsbetriebes nicht uneigennützig war, zeigt ein NZZ-Artikel aus dem Jahr 1963. Unter dem Titel «Die abwegigen Briefmarkengeschäfte der PTT» wird eine bundesrätliche Antwort auf eine kleine Anfrage aus dem Nationalrat verhandelt. Der Tenor: An den «Wohltätigkeits»-Briefmarken verdient hauptsächlich die PTT selber. Weshalb? In vielen Fällen muss der Staatsbetrieb nach dem Verkauf keine entsprechende postalische Leistung erbringen. Viele der Briefmarkenblöcke kaufen Philatelist:innen. Die erstandenen Briefmarken wandern in liebevoll gepflegte Alben und werden nie auf einen Brief oder ein Paket geklebt, welche ein:e Briefträger:in auszutragen hat.
Die Finanzierung des «Hilfswerks» – Betroffene zahlen direkt mit
Zweifellos investiert die Stiftung Pro Juventute viel Geld für gute Zwecke. Das Gros der Einnahmen aus den Briefmarkenverkäufen bleibt bis in die 1970er Jahre bei den Bezirkssekretariaten und lokale Kommissionen verteilen Beträge für Projekte vor Ort. Die Einnahmen aus den «LX-Telegrammen» fliessen an das Zentralsekretariat der Pro Juventute in Zürich. Dieses verfügt selbst über eher geringe Mittel und die vorhandenen Ressourcen sind gebunden. Darum kann das ab 1926 beim Zentralsekretariat angegliederte «Hilfswerk Kinder der Landstrasse» nicht langfristig aus den Fürsorgemitteln der Stiftung finanziert werden. Der Aufbau des «Hilfswerks» wird in 1926-1928 aber teilweise aus den regulären Stiftungsmitteln bestritten, so der Pro Juventute-Jahresbericht von 1928/29.
Ab 1928 finanziert Siegfried das «Hilfswerk» über andere Geldbeschaffungsmethoden. Eine Aufschlüsselung der Einnahmen und Ausgaben für die Jahre 1926–1936 in der von Siegfried verfassten Publikation «Zehn Jahre Fürsorgearbeit unter dem fahrenden Volk» ergibt folgendes Bild. Total gibt das «Hilfswerk» in zehn Jahren 477’067 CHF aus (teuerungsbereinigt ca. 4 Millionen CHF von 2024). Das Geld stammt aus den folgenden Quellen:
- Beiträge der Kantone und Gemeinden: 236’473 CHF
- Bundesbeiträge: 88’600 CHF (Beiträge ab 1930)
- Beiträge von Freunden und Gönnern: 56’954 CHF
- Besondere Zuwendungen, Legate, Zinsen: 51’693 CHF
- Beiträge von Bezirkssekretariaten Pro Juventute: 48’893 CHF
Fast die Hälfte des Budgets stemmen die Heimatkantone und Gemeinden der betroffenen jenischen Kinder und Jugendlichen. Oft übernehmen kommunale Armenbehörden das Gros dieser Kosten. Besonders zynisch: viele Gemeinden treiben das Geld, wenn möglich, bei den betroffenen Familien selbst oder bei der Verwandtschaft ein. Wegen der gesetzlichen Unterstützungspflicht müssen erwerbsfähige jenische Eltern und Geschwister das an ihnen ausgeführte Unrecht mitfinanzieren. Ältere Mündel, die bereits auf einem Bauernhof oder als Angestellte arbeiten, müssen zudem den grössten Teil ihres Lohnes an das «Hilfswerk» abgeben.
Einnahmen und Ausgaben des «Hilfswerk Kinder der Landstrasse» in der Zeit 1926–1936.Bild: Alfred Siegfried: Zehn Jahre Fürsorgearbeit unter dem fahrenden Volk, Zürich 1936, S. 33.
Wie viel Geld aus dem Pro-Juventute-Briefmarkenverkauf fliesst ins «Hilfswerk»?
In Bezug auf die hier verhandelte Fragestellung ist der Posten «Beiträge von Bezirkssekretariaten Pro Juventute» relevant. Das «Hilfswerk» bestreitet 1926–1936 etwa 10 % der Gesamtausgaben via Gelder aus den Briefmarkenverkäufen der Bezirkssekretariate. Die Bezirkssekretariate finanzieren sich früher hauptsächlich aus dem Briefmarkenverkauf und verwalten diesen Reinerlös.
Ein Blick in die Protokolle der Bezirkskommission von Nidau (im Sozialarchiv in Zürich aufbewahrt) zeigt, wie der Reinerlös aufgeteilt wird. Im Jahr 1930 werden 75 % der Einnahmen direkt für Projekte vor Ort, etwa für ein Kinder-Ferienlager, ausgegeben. Etwa 10 % des Reinerlöses gehen an das Zentralsekretariat der Pro Juventute in Zürich. Letzterem überweist der Bezirk Nidau 100 CHF. Davon sind 20 CHF (teuerungsbereinigt ca. 140 CHF von 2024) für die «Kinder der Landestrasse» reserviert. Auch 1939 gehen 20 CHF an das «Hilfswerk». In diesem Jahr beträgt der Reinerlös in Nidau 1900 CHF. 1954 bleibt die Verteilung ähnlich – in diesem Jahr gehen 60 CHF direkt an das «Hilfswerk».
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass tröpfchenweise freiwillige Beiträge aus dem Briefmarkenverkauf der Bezirkssekretariate in die Kasse des «Hilfswerks» fliessen. Die Beiträge an das «Hilfswerk» dürften pro Bezirkssekretariat maximal 5–10 % Ihres Reinerlöses betragen haben. Bis 1960 weisen die Jahresberichte des «Hilfswerks» die Zuwendungen von Pro Juventute-Bezirken meist nicht gesondert aus. Danach lässt sich in den Jahresberichten nachvollziehen, dass jährlich 10’000 bis 15’000 CHF (für 1960 teuerungsbereinigt ca. 43’000 bis 65’000 CHF) aus den Bezirken stammen. Wie bereits 1926–1936, machen diese Zuwendungen ca. 10 % des Gesamtbudgets des «Hilfswerks» aus.
Die Verwaltung des «Hilfswerks» wird vom Zentralsekretariat der Pro Juventute in Zürich besorgt. Verantwortlich ist dort die «Abteilung Schulkind». Einen nicht unwesentlichen Beitrag zum «Hilfswerk» leistet Pro Juventute damit über das Bezahlen der Löhne von Alfred Siegfried und seiner Nachfolger:innen. Das Zentralsekretariat finanziert sich wiederum existenziell über Abgaben der Bezirkssekretariate und aus den Beiträgen der «LX-Telegramme». Das Geld für die Verwaltung des «Hilfswerks» kommt also mehrheitlich aus Quellen, die zusammen mit der PTT erwirtschaftet werden.
Schwerlich monetär fassen lässt sich schliesslich, wie wichtig die in der Schweizer Bevölkerung sehr positiv konnotierten Marken «Pro Juventute» und «PTT» sind. Das «Hilfswerk Kinder der Landstrasse» agiert im Namen der schweizweit geachteten Stiftung und positioniert sich dort geschickt innerhalb des Verwaltungsapparates. Auf mehreren Ebenen nutzt Siegfried sein durch die Arbeit bei «Pro Juventute» aufgebautes Beziehungsnetz für seine Zwecke – und für jene des «Hilfswerk» – aus. Hält Siegfried beispielsweise einen Vortrag und wirbt dort um Spenden für das «Hilfswerk», so ist er gleichzeitig allseits respektierter Repräsentant von Pro Juventute. Hoch angesehen kann er es sich leisten, einzelne seiner Mündel mit in seine Ferien zu nehmen.
Fassen wir zusammen: Die Beiträge der Pro-Juventute Bezirkssekretariate an das «Hilfswerk Kinder der Landstrasse» belaufen sich auf etwa 10 % der gesamten Einnahmen des «Hilfswerk». Dieses Geld stammt grösstenteils aus dem Erlös des Briefmarkenverkaufs. Das Zentralsekretariat der Pro Juventute wird von der PTT direkt mit den Beiträgen aus den «LX-Telegrammen» unterstützt und bezieht auch Gelder aus den Bezirkssekretariaten. Das Zentralsekretariat wiederum bezahlt die Löhne von Alfred Siegfried und seinen Nachfolger:innen und finanziert die Verwaltung des «Hilfswerks». Aus dem Reinerlös auf Pro Juventute-Briefmarken und -Telegramme fliessen – über viele verschlungene Wege – 1926–1972 grob geschätzt 5–10 % in das «Hilfswerk Kinder der Landstrasse». Aller Wahrscheinlichkeit nach, unterstützt die PTT damit das «Hilfswerk» via Pro Juventute mit einem Millionenbeitrag (teuerungsbereinigt von 2024).
Interessant ist, dass das «Hilfswerk» und dessen Finanzierung in den Stiftungsratssitzungen von Pro Juventute kaum je ein Thema ist. Die PTT-Generaldirektoren und der restliche Stiftungsrat scheinen sich für finanzielle Details oder für jenische Kinder kaum zu interessieren. Wie die Historikerin Sara Galle in ihrem Kindeswegnahmen-Buch nachweist, war die Unterorganisation in den fast 50 Jahren des Bestehens nur zweimal Gegenstand einer Diskussion. Das «Hilfswerk» wirtschaftet weitgehend unbeobachtet im Schatten der grossen Stiftung.
1968 rapportiert der Pro-Juventute-Zentralsekretär Alfred Ledermann dem Stiftungsrat die Tätigkeiten der Stiftung in einem langen Referat. «Kinder der Landstrasse» bleibt auch da unerwähnt. Die Stiftung zählt zu diesem Zeitpunkt das «Hilfswerk» offenbar nicht zu seinen wichtigen Aufgaben – oder man schämt sich bereits insgeheim dafür. Siegfrieds Nachfolger Peter Doebeli wird 1963 vom Zürcher Obergericht wegen sexueller Übergriffe auf Schutzbefohlene zu mehreren Jahren Zuchthaus verurteilt. Zwei seiner Opfer sind «Kinder der Landstrasse».
Das Ende des «Hilfswerks» – und Leid bis in die Gegenwart
Im Jahresbericht 1972/73 vermeldet die Pro Juventute in der Folge der «Beobachter»-Artikel das Aus für das «Hilfswerk». Die nüchternen Zeilen lassen nicht vermuten, wie viel Leid verursacht wurde: «Die Auflösung des Hilfswerkes und die Rückgabe der Betreuungsfälle an die Vormundschaftsbehörden ist mit dem Berichtsjahr eingeleitet worden. Dem Wandel in der Auffassung über Sinn und Notwendigkeit der Sesshaftmachung des fahrenden Volkes wurde Rechnung getragen.»
Aus dem letzten Satz lässt sich herauslesen, dass sich auch die Geisteshaltung der Gesellschaft im Wandel befindet. Die 1968er-Bewegung steht auch für eine Öffnung der Lebensstile und für die zunehmende Verachtung für Rassismus und Eugenik. Für viele «Kinder der Landstrasse» ist der Leidensweg 1972 aber noch keineswegs zu Ende. Ihr weiteres Schicksal wird nun oft von der Administrativen Versorgung geprägt. Erst 1981 werden die alten Versorgungsgesetze grundlegend überarbeitet. Die Folgen für die Betroffenen bleiben allerdings oft ein Leben lang. Jenische, Sinti und Roma sind zudem bis heute von verschiedenen Diskriminierungen betroffen.
Der Verkauf der Briefmarken durch Schüler:innen geht nach 1972 weiter. Pro Juventute zeigt vorerst kein Interesse an der Aufarbeitung des Unrechts. 1985 boykottieren 80 Berner Lehrer:innen das Hausieren mit Briefmarken. Initiiert wird die Aktion von Lehrpersonen aus dem Schulhaus Steigerhubel – hier gehen jenische Kinder vom Winterstandplatz Bern zur Schule. Gefordert werden eine Entschuldigung und eine Wiedergutmachung. 1986 weitet sich der Protest aus und auch in anderen Kantonen gibt es Boykotte. Der Ertrag aus dem Briefmarkenverkauf geht landesweit um 10 Prozent zurück.
Im Mai 1986 findet eine turbulente Pro-Juventute-Pressekonferenz statt. Die nicht eingeladenen Jenischen verschaffen sich vor laufenden TV-Kameras geschickt Gehör. 1987 erfolgt eine erste sehr formelle Entschuldigung. Auf jahrzehntelangen Druck der Betroffenen hin wird das dunkle «Hilfswerk»-Kapitel seit den 1990er Jahren aufgearbeitet. Auch die Administrative Versorgung ist Gegenstand laufender Untersuchungen. 2024 prüft die Bundesverwaltung aufgrund eines offenen Briefes, ob die Verfolgung der Jenischen und Sinti ein «kultureller Völkermord» gewesen ist.
Die Stiftung Pro Juventute ist heute (2024) eine zeitgemässe Fachorganisation für Kinder und Jugendliche, welche die Kinderrechte ins Zentrum ihres Wirkens stellt. Für das Unrecht hat sie sich wiederholt entschuldigt und sie unterstützt die Aufarbeitung seit vielen Jahren finanziell und ideell. Heute stammen die Einnahmen der Pro Juventute grösstenteils von privaten Spender:innen, Unternehmen, Stiftungen und der öffentlichen Hand. Der Verkauf der Briefmarken, der längst nicht mehr von Schüler:innen bestritten wird, macht nur noch ein Prozent der Einnahmen aus.
Pro Juventute und das «Hilfswerk Kinder der Landstrasse» in der Sammlung des Museums für Kommunikation
In der Sammlungsdatenbank des Museums für Kommunikation finden sich unter dem Stichwort «Pro Juventute» über tausend Treffer. Briefmarkenentwürfe, alle Pro Juventute-Briefmarken, «LX-Telegramme», Plakate, Fotografien sowie vereinzelte Objekte zeugen von der engen Zusammenarbeit zwischen der PTT und der Stiftung Pro Juventute. Diese Zusammenarbeit ist auch im PTT-Archiv in Köniz ausführlich mit Quellenbeständen dokumentiert. Sucht man in der Datenbank hingegen nach dem Stichwort «Kinder der Landstrasse», so bleibt die Ergebnisliste bisher leer.
Gemeinsam mit jenischen Vertreter:innen und der Stiftung Pro Juventute ist das Museum deshalb in einen Prozess der Zusammenarbeit gestartet. Die Recherchen für diesen Blog bilden die Grundlage für mehr Sichtbarkeit in dieser Sache. Sammlungsobjekte aus der Zeit 1926–1973, die einen Bezug zum «Hilfswerk»-Unrecht haben, werden in der Datenbank noch 2024 mit einer Kontextualisierung ergänzt. Auch in der Kernausstellung des Museums für Kommunikation soll an einer geeigneten Stelle auf das Thema «Kinder der Landstrasse» und auf die Verflechtungen mit der PTT hingewiesen werden.
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